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# taz.de -- Flucht in den Rave: Plädoyer für den Kontrollverlust
> Warum der Mensch den Rave, den Schmutz und das Loslassen braucht.
> Gedanken auf dem Puppenräuber-Floor der Wilden Möhre um zwei Uhr morgens.
Bild: Wir leben den westlichen Traum. Aber suchen wir nicht etwas anderes?
Es haut alles gleichzeitig rein, als ich auf der Tanzfläche stehe. Der Bass
haut mir fast die Füße unter dem Boden weg. Gleichzeitig stehe ich in
tiefer Verbindung mit der Erde unter mir, während der Regen auf mich
niederprasselt. Der Beat haut rein so wie der Ellbogen von der Person neben
mir, die sich diesem mit einem lauten „Wouh“ komplett hingegeben hat. Ich
schließe die Augen, tue ihr gleich.
Hinter mir schreit jemand: „Das hat mir so gefehlt“. „Das“ ist das Tanz…
unter fast 3.000 anderen Menschen bis in den Morgen hinein. „Das“ ist, den
Schweiß der anderen mit dem eigenen verschwimmen, und die Sneakers sich mit
Schlamm vollsaugen lassen. Es ist mit fremden Leuten zu quatschen und ähh
„Zigaretten“ zu teilen. Gleichzeitig gemeinsam die vollurinierten Latrinen
zu nutzen und am frühen Morgen auf hartem Boden einzuschlafen. Ja, das hat
so gefehlt, und fast hatte ich schon vergessen, dass es mir gefehlt hatte,
denke ich, während ich tatsächlich Gänsehaut bekomme.
Die Pandemie ist noch gar nicht vorbei und es tummeln sich schon tausende
von Menschen auf den Floors, wo auch immer es wieder möglich ist. Wir haben
über ein Jahr lang gelehrt bekommen, wie wichtig strikte Hygiene und
Abstand sind. Was der Mensch braucht und sucht, scheint hier auf der Wilden
Möhre etwas anderes zu sein: Tanzen, Schmutz, Loslassen.
Der Mensch braucht den Kontrollverlust. Schon im Mittelalter feierte man
Fastnacht, bei den alten Römern tauschten Herren und Sklaven jährlich bei
den Saturnalien für ein paar Tage die Rollen. Und Woodstock ist jetzt auch
schon seit über 50 Jahren Kult. Der Mensch hat das Bedürfnis nach
temporären, geregeltem Chaos, geht es mir durch den Kopf.
## Schein-Flucht aus der Komfortzone
Auch wir brauchen den Kontrollverlust. Wir, eine Blase von Menschen, die
„alles“ haben. Die meisten sind Studierende, junge Menschen wie ich. Die
meisten kommen aus Berlin, manche aus Dresden oder Magdeburg. Aus Polen
treffe ich niemanden in dem Brandenburgischen Wald an der Grenze zu Polen
und Sachsen. Kaum Empfang, drei Tage im See baden, Drogen nehmen und
Glitzer im Gesicht tragen – weshalb? Wir haben fließendes Wasser, saubere
Wohnungen, mehr als genug zu essen, genießen die beste Bildung. Könnten den
westlichen Traum leben und suchen doch mindestens einmal im Jahr, ihm zu
entfliehen.
Wir sind irgendwie auch politisch hier und gleichzeitig wiederum nicht. Das
[1][Festival] ist sehr ökologisch, das Essen vegetarisch, es gibt Vorträge
und so, in denen ziemlich verstrahlte Leute drinsitzen, die ziemlich
verstrahlten Leuten beim Reden zuhören. Hier will man etwas verändern,
vielleicht. Dann zahlen wir, um mit den anderen aus unserer Blase in Ruhe
zu feiern.
Wir zahlen, um uns beim Kost-Nix-Laden antikapitalistisch zu fühlen. Fühlen
uns drei Tage mit der Natur im Einklang und fahren dann mit dem Mietwagen
zurück nach Berlin. Kritisieren den Egoismus und fehlende Solidarität in
der Gesellschaft und tanzen doch alleine, jede:r für sich. Sind alle
gleich individuell. Wir suchen Freiheit und stellen gleichzeitig Regeln auf
für „richtig“ und „falsch“.
Sind wir links-grüne Rebellen? Kaum. Wir machen nicht kaputt, was uns
kaputt macht. Wir erhalten es vielmehr, dadurch, dass wir uns ein
Wochenende lang im Wald verstecken, uns etwas anderes einreden, loslassen,
um uns dann wieder einzugliedern in das System, in die Gesellschaft, ein
weiterer Stein in der Wand.
## Zwischen Haben und Sein
Wovor fliehen wir und kehren dann doch in das geregelte Leben zurück? Ein
Leben in Sicherheit und Ordnung, unter Umständen, die sich die meisten
Menschen auf der Welt nur wünschen können – und entspannen aber im zur
Musik pulsierenden Dreck? Oder haben wir gar kein geordnetes Leben, keine
Umstände, die uns guttun? Wovor flüchten wir, wenn wir Pillen nehmen und
die Nacht hindurch zum Beat vibrieren? Gibt uns die Gesellschaft etwa gar
nicht das, was wir wollen?
Es sollte ein Plädoyer für den Kontrollverlust werden, und jetzt bin ich
mir nicht mehr sicher darüber. Erstens, weil die ganzen Gedanken durch
meinen Kopf fliegen, obwohl ich doch nur loslassen möchte und tanzen. Und
zweitens, weil ich mich frage, ob dieses Gefühl, das ich suche, der
Freiheit, des Kontrollverlustes, der Ekstase, dass das einhergeht mit
meinem eigentlichen Leben, zu dem ich morgen zurückkehre und das offenbar
genau das Gegenteil bedeutet. Kontrolle, Vernunft, Konformität.
Vielleicht ist aber auch gerade das das Geile, die kurzen Oasen der Flucht
in den Rave, die kurzzeitige Möglichkeit zu vergessen. Und dann wieder
zurück in das Leben, das doch schön genug ist, wie es ist, als dass wir es
ganz aufgeben wollen. Vielleicht, denke ich, für den Moment will ich
einfach nur tanzen.
27 Aug 2021
## LINKS
[1] https://wildemoehrefestival.de/
## AUTOREN
Ruth Fuentes
## TAGS
Antikapitalismus
Rave
Festival
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Männer
Cottbus
Festival
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