# taz.de -- Machtwechsel in Afghanistan: Die Furcht vor den Taliban | |
> Der Sieg der radikalen Islamisten stellt die globale Rolle der USA in | |
> Frage. Und hat immense Auswirkungen auf die Region – von der Türkei bis | |
> Indien. | |
Bild: Wang Yi (r.), Außenminister von China, und Mullah Abdul Ghani Baradar, T… | |
Zwei Jahrzehnte lang haben die USA vergeblich versucht, in [1][Afghanistan] | |
einen Staat aufzubauen. Das Desaster, dem die Taliban-Gegner:innen und die | |
Bevölkerung Afghanistans ausgeliefert wurden, haben das Ansehen von | |
[2][US-Präsident Joe Biden] und der US-Außenpolitik im Allgemeinen | |
nachhaltig beschädigt. | |
Der türkisch-amerikanische Ökonom Daron Acemoğlu urteilt, dass die USA sich | |
einer untauglichen Methode bedient hätten, um ein stabiles Staatswesen mit | |
robusten Institutionen zu schaffen. Nation-Building von oben herab durch | |
Intervention von außen – das musste scheitern. | |
Schon lange galt als gesichert, dass ein US-Abzug Afghanistan um Jahrzehnte | |
zurückwerfen würde. Die Frage war nur, wem die Schuld dafür zugeschrieben | |
würde. Schon Obama und auch Trump hatten versprochen, die US-Truppen | |
abzuziehen, aber es blieb Biden überlassen, sein Wahlversprechen | |
umzusetzen. | |
Seine Zustimmungsrate sank von 52 Prozent im April auf zuletzt 43 Prozent. | |
Dabei unterstützen 77 Prozent der US-Bürger:innen den Abzug grundsätzlich, | |
und nur 36 Prozent von ihnen sagen, dass der Krieg in Afghanistan notwendig | |
war. | |
Hier stellt sich nun die Frage, ob in dem gescheiterten Abzug eine | |
Botschaft an die Adresse der EU steckt? In vielen westlichen Staaten wächst | |
die Furcht vor einer großen Zahl von neuen Geflüchteten oder neuen | |
Terroranschlägen. Die Länder der EU sind damit stärker auf das Nato-Bündnis | |
angewiesen. Genau dieses Signal wollte Biden senden. Auch an Russland und | |
China ging das vergiftete Geschenk der USA, dass beide Staaten nun selbst | |
mehr Aufmerksamkeit auf die Sicherheitsprobleme richten müssen, die von | |
einer Talibanherrschaft in Afghanistan ausgehen. | |
China steht schon bereit, eine Rolle im neuen Status quo in der Region zu | |
spielen. Derek Grossman von der Denkfabrik Rand Corporation merkt an, dass | |
China schon seit vielen Jahren im Dialog mit den Taliban steht und Peking | |
seit langer Zeit auf eine Talibanherrschaft vorbereitet ist. Stunden nach | |
dem Fall Kabuls gab China bekannt, dass es zu guten Beziehungen mit den | |
Taliban bereit sei. | |
## Chinas doppelte Interessen | |
China ist besorgt, dass sich in Xinjiang an der Grenze zu Afghanistan | |
islamistische Bewegungen ausbreiten. Chinas Großprojekt der Neuen | |
Seidenstraße erfordert zudem Stabilität in der weiteren Umgebung | |
Afghanistans. Talibansprecher Zabihullah Mudschahid erklärte: „China bietet | |
für uns grundlegende und außerordentliche Möglichkeiten, da das Land | |
bereitsteht, in unserem Land zu investieren und es wieder aufzubauen.“ | |
Beide Seiten sind sehr bemüht, eine neue Handelsallianz über das schon | |
lange vorangetriebene Seidenstraßenprojekt zu schmieden. Der Wert von | |
Afghanistans Bodenschätzen wird auf nahezu 1 Billion US-Dollar geschätzt. | |
Es sind vor allem Eisen, Kupfer und Gold, dazu eines der weltweit größten | |
Lithiumvorkommen, das für Chinas Hightechindustrie von vitaler Bedeutung | |
ist. | |
In diesem Zusammenhang ist auch die Haltung der britischen Regierung zur | |
Machtübernahme der Taliban interessant: Außenminister Dominic Raab sagte: | |
„Das Vereinigte Königreich hat nicht vor, eine Talibanregierung in | |
Afghanistan anzuerkennen, ist aber bereit zu einer konstruktiven Beziehung | |
mit der militanten Gruppe.“ Da Großbritannien das westliche Ende der Neuen | |
Seidenstraße bildet, ist diese Erklärung im Kontext der Beziehungen zu | |
China von Bedeutung. | |
## Indiens Sorgen | |
Eine häufig übersehene Konsequenz der Machtübernahme der Taliban sind die | |
damit verbundenen Risiken für Indien. Delhi ist in Sorge vor radikalen | |
islamistischen Bewegungen, wie sie vor allem von der pakistanischen | |
Regierung gefördert werden. Indien mit seiner großen Bevölkerung und seinen | |
Hightechinvestitionen etwa in der Raumfahrt rivalisiert regional und global | |
mit der Volksrepublik China. | |
Pakistan pflegt aber enge Beziehungen mit Peking, und der | |
Wirtschaftskorridor China–Pakistan (CPEC) ist eines der Vorzeigeprojekte | |
der Neuen Seidenstraße. Seit dem Sieg der Taliban sorgt sich Indien vor | |
einer neuen Welle des islamischen Fundamentalismus vor allem in den | |
Regionen Jammu und Kaschmir und Ladakh. Der frühere indische Innenminister | |
Palaniappan Chidambaram, ein langjähriger Politiker der Kongresspartei, | |
sagt: „Eine mögliche Achse China–Pakistan–Afghanistan unter | |
Talibanherrschaft ist ein Grund zur Sorge.“ | |
## Ein neuer Säkularismus in der Türkei? | |
Die Türkei bemüht sich vor allem seit dem Putschversuch von 2016 um engere | |
Beziehungen zu Russland und China und versucht derzeit, zwischen dem Westen | |
und den Taliban zu vermitteln. Die Türkei steckt in einer tiefen | |
Wirtschaftskrise, die durch die Pandemie noch komplizierter zu bewältigen | |
geworden ist. | |
Nach Bidens Wahlsieg hat die Türkei sich um bessere Beziehungen zu den USA | |
bemüht. Schon im Juni 2021 bot der [3][türkische Präsident Recep Tayyip | |
Erdoğan] bei einem Treffen mit Biden an, für die Sicherheit des Flughafens | |
in Kabul zu sorgen, falls die USA sein Land finanziell unterstützen würden. | |
Er öffnete auch bis Mitte August die Grenzen für aus Afghanistan | |
Geflüchtete, um sie als Pfand gegenüber der EU einzusetzen. | |
Die Türkei beherbergt nun 4 Millionen Migrant:innen, davon mehr als 300.000 | |
Menschen aus Afghanistan. Das wurde von der öffentlichen Meinung in der | |
Türkei heftig angegriffen, worauf die Grenzen wieder geschlossen wurden. | |
Auch die Pläne der britischen Regierung, Aufnahmezentren für afghanische | |
Geflüchtete unter anderem in der Türkei einzurichten, wurden öffentlich | |
kritisiert. Viele türkische Kommentare fragen, welche religiösen | |
Überzeugungen die neuen afghanischen Flüchtlinge ins Land brächten. | |
Die zunehmende Islamisierung der Türkei in Erdoğans 20-jähriger | |
Regierungszeit haben in der Opposition die Forderung nach einer säkularen | |
Republik immer lauter werden lassen. Somit steht die Türkei trotz der | |
aktuellen Sorge vor einer Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus | |
angesichts der sozialen Proteste gegen die Regierung an der Schwelle eines | |
neuen Säkularismus. | |
7 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Özgün Emre Koç | |
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