# taz.de -- Neues Kabinett in Afghanistan: Choleriker wird Ministerpräsident | |
> Die Taliban bilden die Regierung in Afghanistan. Für Recht ist ein Mann | |
> zuständig, nach dem wegen Anschlägen gefahndet wurde. Frauen sind nicht | |
> dabei. | |
Bild: Protest: Frauen demonstrieren in Kabul gegen den Einfluss Pakistans | |
Nach mehreren Ankündigungen und Verschiebungen haben die Taliban am späten | |
Dienstagnachmittag in Kabul die Zusammensetzung ihrer neuen Regierung | |
bekanntgegeben. Ursprünglich wollten die Taliban Vertreter relativ | |
wohlgesonnener Staaten wie Pakistan, Russland, Iran und China einladen, um | |
ihrem neuen Regime einen Anstrich wenigstens teilweiser internationaler | |
Akzeptanz zu geben. | |
Aber dazu kam es nicht. In den Tagen zuvor machten etwa Moskau und Ankara | |
klar, dass es zu früh für eine Anerkennung sei, ohne zu sagen, welche | |
Bedingungen die Taliban dafür erfüllen müssten. | |
Talibansprecher Sabihullah Mudschahed – ab jetzt Vizechef im | |
Informationsministerium – gab eine Liste mit 33 Namen von Ministern und | |
Regierungsbeamten aus, etwa auch mit dem neuen Chef der Nationalbank. Alle | |
Kabinettsmitglieder sind islamische Geistliche und Mitglieder der | |
Taliban-Bewegung; viele innerparteiliche Schwergewichte erhielten | |
Ministerämter. | |
Darunter ist keine Frau und auch kein Politiker der afghanischen | |
Islamischen Republik, die von 2001 bis zum Kollaps der Regierung Aschraf | |
Ghani im August diesen Jahres bestand. Der afghanische Analyst Ibraheem | |
Bahiss von der [1][International Crisis Group in Brüssel] zählte 30 | |
Paschtunen, zwei Tadschiken und einen Usbeken auf der Liste, auch das kein | |
Zeichen von ethnischer Ausgewogenheit. Immerhin wird mit dem Usbeken | |
Maulawi Abdul Salam Hanafi ein Nicht-Paschtune Vizeregierungschef. | |
## Weiter wie 2001 | |
Gleichzeitig werden das Kabinett und seine Mitglieder als „interim“ | |
bezeichnet; ein Zeichen, dass man weiter mit Politikern der beendeten Ära | |
über eine künftige politische Rolle verhandeln und das Versprechen, eine | |
„inklusive islamische Regierung“ zu bilden, doch noch wahrmachen könnte. | |
Angesichts der umfassenden Macht der Taliban würden sie allerdings wohl nur | |
eine Feigenblattfunktion erfüllen. | |
Dazu passt auch, dass die Taliban nach wie vor keine Staatsform | |
bekanntgaben, also weder formal die bisherige Islamische Republik | |
abschafften noch ein Islamisches Emirat oder [2][ihren religiösen Führer | |
Mullah Hebatullah Achundsada] zum Staatschef ausriefen. | |
Der soll sich nach Talibanangaben in Kandahar aufhalten, blieb bisher aber | |
unsichtbar. Nach der Kabinettsverkündung wurde lediglich eine Erklärung in | |
seinem Namen verbreitet. Darin forderte er die neue Regierung auf, das | |
islamische Recht aufrechtzuerhalten, kündigte die Einhaltung von | |
Menschenrechten in diesem Rahmen an und wiederholte das Interesse an | |
„starken und gesunden“ Beziehungen zu anderen Staaten. | |
Ministerpräsident wird nicht, wie im Westen erwartet, der bisherige | |
Taliban-Chefunterhändler [3][Mullah Abdul Ghani Baradar], sondern Mullah | |
Muhammad Hassan Rahmani. Damit setzen die Taliban sowohl personell als auch | |
politisch ein Zeichen von Kontinuität zu ihrer ersten Herrschaftszeit in | |
Kabul von 1996 bis 2001. In deren letzten Jahren war Hassan bereits einmal | |
amtierender Regierungschef, davor unter anderem Gouverneur von Kandahar und | |
Außenminister. | |
## Besuch vom Geheimdienstchef | |
Bekannt war der laut UNO-Sanktionsliste 1963 geborene Kandahari mit der | |
Beinprothese, Resultat einer Minenexplosion, als Choleriker und für sein | |
konfrontatives Verhalten auch gegenüber internationalen Gesprächspartnern. | |
1998 zog der damalige UN-Sondergesandte Lakhdar Brahimi nach einem | |
tätlichen Angriff Hassans auf einen Mitarbeiter das gesamte internationale | |
Personal aus Kandahar ab und suspendierte sogar die humanitäre Hilfe in | |
diesem Teil des Landes. | |
Hassans Ernennung dürfte auf den [4][Einfluss Pakistans] zurückzugehen. | |
Trotz seiner Mitgliedschaft im Führungsrat der Taliban, ihrem eigentlichen | |
Entscheidungsgremium, war er in den letzten Jahren wenig in Erscheinung | |
getreten und könnte von Pakistan in Reserve gehalten worden sein, um seinen | |
Einfluss durchzusetzen. | |
Darauf deutet eine Episode in Jahr 2013 hin, als ihn der pakistanische | |
Geheimdienst mit zwei anderen Talibanführern nach China flog, um dort die | |
sogenannte quadrilaterale Koordinierungsgruppe aus Vertretern Chinas, der | |
USA, Pakistans und der damaligen afghanischen Regierung in Vorbereitung von | |
Direktgesprächen zwischen Kabul und den Taliban zu treffen, wie der | |
US-Professor und Afghanistanexperte Barnett R. Rubin später berichtete. | |
Am Samstag war der Chef von Pakistans Militärgeheimdienst ISI in Kabul. | |
Dabei könnte er auf die Regierungsbildung Einfluss genommen haben. | |
## Wie weiter ohne Opium? | |
Baradar saß dagegen zwischen 2010 und 2018 wegen unautorisierter Gespräche | |
mit Kabul in ISI-Haft; das Verhältnis dürfte dadurch getrübt sein. Zum | |
zweiten musste Baradar angesichts des großen Medieninteresse an ihm den | |
Taliban praktisch als Wunschpartner des Westens erscheinen, was ebenfalls | |
zu seiner Relegation ins zweite Glied – aber immer noch als | |
Vizeregierungschef – beigetragen haben könnte. | |
Maulawi Amir Khan Motaki, ein erfahrener Verhandler, wird Außenminister. Er | |
diente bereits ab 2000 während innerafghanischer Friedensverhandlungen als | |
Hauptkontakt für die UNO. | |
Mit Mullah Hedajatullah Badri als Finanzminister ist jemand vergleichsweise | |
Unbekanntes für ein Schlüsselressort nominiert worden. Er wird mit der | |
Geldknappheit der neuen Regierung wegen der von den USA eingefrorenen | |
Auslandsguthaben und der von Deutschland auf Eis gelegten | |
Entwicklungsgelder umgehen und sich um die Lebenssituation der nach | |
UN-Angaben zu 80 Prozent unter der Armutsgrenze lebenden Bevölkerung | |
kümmern müssen. Qari Din Muhammad Hanif als Wirtschaftsminister war | |
immerhin bis 2001 Planungsminister. | |
Es gibt auch einen Vizeinnenminister mit der Aufgabe der Drogenbekämpfung. | |
Um dies umzusetzen, verlangten die Taliban bereits ausländische Hilfe für | |
den Anbau alternativer Kulturen zum Opiummohn. Bisher bildete die | |
Besteuerung des Drogenanbaus und -handels eine der Haupteinnahmequellen der | |
Taliban. Laut UNO war allein die Opiumindustrie 2017 zwischen 4,1 und 6,6 | |
Milliarden US-Dollar wert; dazu kommt Haschisch-Anbau in großem Stil. Ein | |
Ausfall dieser Einnahmen dürfte die Geldknappheit der neuen Machthaber | |
zunächst weiter verschärfen. | |
## Balance zwischen Taliban-Flügeln | |
Für eine effektive Bekämpfung der Wirtschaftskrise wird allerdings nicht so | |
sehr eine Rolle spielen, dass die hochrangigen Kabinettsposten durchweg mit | |
Geistlichen mit wenig Fachkenntnissen besetzt sind, sondern ob es ihnen | |
gelingt, das bisherige Personal auf der ministeriellen Fachebene zurück an | |
die Arbeit zu bringen. | |
taz-Kontakte in Afghanistan berichten, dass das bisher nur in Ansätzen | |
gelungen sei. Die meisten Beamten trügen sich täglich in die | |
Anwesenheitslisten ein, um sicherzustellen, dass sie auch Gehalt bekommen, | |
hätten aber wenig zu tun. Den meisten Vizeministern und Abteilungsleitern | |
der alten Regierung hätten die Taliban bedeutet, dass sie nicht mehr | |
benötigt würden. | |
Schlüsselpositionen im Kabinett besetzen Mullah Muhammad Jakub als Minister | |
für Verteidigung und [5][Mullah Seradschuddin Hakkani] als Minister für | |
Inneres. Jakub, der Sohn des verstorbenen Talibangründers Mullah Muhammad | |
Omar, und Hakkani repräsentieren damit das Machtgleichgewicht zwischen zwei | |
regionalen Flügeln der Taliban. | |
Jakub den des ehemaligen Taliban-Mainstreams in der Region Kandahar, | |
Hakkani das des sogenannten Hakkani-Netzwerks im Südosten Afghanistans, der | |
Region Groß-Paktia. Hakkani, der sowohl als Person als auch mit seiner | |
Organisation auf den Terrorismussanktionslisten der UNO und der USA steht, | |
behält damit die Hoheit über die Polizei, die wegen ihres gewaltsamen | |
Vorgehens gegen Demonstrant:innen in den letzten Tagen in die Kritik | |
geraten war. | |
## Führungsrat spielt die Erste Geige | |
Interessant ist auch, wer nicht im Talibankabinett vertreten ist. Dazu | |
gehören Gul Agha Ishaksai und wichtige Kommandeure wie Sadr Ibrahim und | |
Mullah Abdul Kajum Saker. Während Analysten dies als mögliche Entmachtung | |
bestimmter Fraktionen werten, könnte es auch sein, dass sie nicht ins | |
Rampenlicht gestellt werden sollen. | |
Trotz prominenterer Besetzung als vor 2001 könnten das neue Kabinett | |
talibanintern weiter die zweite Geige hinter dem Führungsrat spielen. | |
8 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.crisisgroup.org/asia/south-asia/afghanistan | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Hibatullah_Achundsada | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Abdul_Ghani_Baradar | |
[4] /Taliban-in-Afghanistan/!5791521 | |
[5] https://rewardsforjustice.net/english/khalil_haqqani.html | |
## AUTOREN | |
Thomas Ruttig | |
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