# taz.de -- Verschwörungsmythen und Sci-Fi: Zwischen zwei Pillen | |
> Das coronaleugnerische Milieu findet überall scheinbare Belege für seine | |
> verschwörungsideologischen Ansichten. Nun ist auch Science-Fiction dran. | |
Bild: Will Smith mit Hund in „I Am Legend“ | |
Wenn Menschen nicht weiterwissen, wenden sie sich Geschichten zu. | |
[1][Erzählungen können Sinn stiften und rückversichernd wirken.] Um | |
Vorgänge in der Welt zu erklären, bedienen wir uns an bestehenden | |
Narrationen oder schaffen sogar eigens neue, um undurchsichtige Vorgänge zu | |
begreifen. Bevor es die wissenschaftliche Wetterbeobachtung gab, stellten | |
wir uns vor, dass die Götter des Olymp die Winde, den Regen, Blitz und | |
Donner auf die Erde schicken. Und welche andere Existenzberechtigung hätten | |
Religionen bis heute, wenn nicht das Versprechen, dass unser Leben nicht | |
wahl- und ziellos ist? | |
Dass Menschen mitunter krampfhaft danach streben, Zusammenhänge zu erkennen | |
– oder notfalls wider besseres Wissen solche herzustellen –, zeigt sich | |
während der Pandemie besonders deutlich. Als sich das Coronavirus immer | |
weiter auszubreiten begann, wurde [2][Steven Soderberghs im Jahr 2011 | |
erschienenem „Contagion“] ungeahnte neuerliche Aufmerksamkeit zuteil. | |
Im hochrangig besetzten Thriller (Matt Damon, Kate Winslet, Jude Law) wird | |
der Erreger von einer Fledermaus auf den Menschen übertragen, was auch im | |
Fall von Covid-19 als eine der denkbaren Möglichkeiten für die | |
Erstübertragung auf den Menschen gilt. Zahlreiche Zeitungs-, Blog- und | |
Social-Media-Beiträge spekulierten daraufhin, ob „Contagion“ die weltweite | |
Seuche vorhergesagt habe. | |
Andere gingen sogar einen Schritt weiter und fragten, ob aus dem – | |
fiktionalen, aber von der Sars-Pandemie 2002/2003 inspirierten – Film | |
womöglich sogar Lehren für unsere momentane Situation zu ziehen seien. Der | |
wohl prominenteste unter ihnen ist [3][Matt Hancock, britischer | |
Gesundheitsminister]. Anfang des Jahres trat er vor die Presse, um zu | |
erklären, dass er sich von „Contagion“ habe inspirieren lassen, als er die | |
Impfkampagne auf der Insel vorbereitet habe. Der erbitterte Kampf um das | |
Vakzin im Plot habe ihn veranlasst, früh Priorisierungen bei der | |
Verabreichung der Stoffe zu klären und seinem Land rechtzeitig genug Dosen | |
zu sichern. | |
Während Hancock also seinen Impfnationalismus durch einen Blockbuster | |
rechtfertigte, machten gerade Verschwörungsideolog*innen aus den USA | |
damit Schlagzeilen, dass sie ihre Skepsis gegenüber der Schutzimpfung durch | |
[4][„I Am Legend“ aus dem Jahr 2007] bestätigt sähen. | |
Eine Mitarbeiterin eines Optikers teilte mit, dass sie befürchte, sich | |
durch die Injektion in einen Zombie zu verwandeln – so wie es in besagtem | |
Sci-Fi-Streifen passiert. Im Film modifizieren Wissenschaftler*innen | |
das Masern-Virus, um daraus ein Heilmittel gegen Krebs herzustellen. Als | |
sich diese Erzählung auf Facebook, Instagram und Co rasant zu verbreiten | |
begann, sah sich einer der Drehbuchautoren, Akiva Goldsman, schließlich | |
dazu veranlasst, sie in einem Tweet zu kommentieren: „Es ist ein Film. Das | |
habe ich mir ausgedacht. Es ist. Nicht. Real.“ | |
Von Rechten vereinnahmt | |
Leiderprobte [5][Fans des Sci-Fi-Genres] dürften sich gefragt haben, warum | |
es überhaupt so lange gedauert hat, bis einer ihrer favorisierten Filme von | |
„Impfskeptiker*innen“ und Pandemieleugner*innen vereinnahmt | |
wird. Dass insbesondere filmische Zukunftsszenarien – oder auch in der | |
Gegenwart angesiedeltes pessimistisches Möglichkeitsdenken – von | |
Verschwörungsideolog*innen aufgegriffen und in ihrem Sinne | |
interpretiert wird, passiert nicht zum ersten Mal. Vielmehr hat sich das | |
Genre, ohne ihm ein absichtliches Zutun unterstellen zu wollen, für solche | |
Manöver als besonders anfällig erwiesen. | |
Wie weit der tatsächliche Inhalt von den Standpunkten der Gruppierungen | |
entfernt ist, die ihn in ihrem Sinne umdeuten wollen, scheint keinerlei | |
Rolle zu spielen. Selbst gegenteilige Absichten der Regisseur*innen und | |
Drehbuchautor*innen können zweckentfremdet werden. | |
Das musste beispielsweise Kultfilmemacher John Carpenter („Halloween“, | |
„Assault on Precinct 13“) feststellen. [6][Sein im Jahr 1988 erschienener | |
Film „Sie leben“] erzählt vom Schicksal des arbeitslosen, aber von den | |
Aufstiegschancen in den Vereinigten Staaten überzeugten John Nada (Roddy | |
Piper), der auf seiner verzweifelten Suche nach einer Stelle zufällig an | |
eine Sonnenbrille gerät, durch die er die Welt plötzlich „dechiffriert“ | |
wahrnehmen kann. Wo vorher bunte Werbeanzeigen prangten, strahlen ihm nun | |
stumpfe Kommandos, wie „Konsumiere!“ oder „Hinterfrage keine Autorität!�… | |
entgegen. | |
Was von Carpenter eindeutig als Kritik am neoliberalen Zeitgeist der | |
Reagan-Ära angelegt war, wird in den letzten Jahren verstärkt von der | |
[7][US-amerikanischen „Alt-Right“, also Rechtsextremen und Neonazis], für | |
antisemitische Propaganda zweckentfremdet. Wahlweise werden die Reptiloide, | |
die im Film die Menschheit versklavt haben, oder die zur Elite gehörenden | |
menschlichen Kollaborateure als Beispiel der gleichermaßen perfiden wie | |
gefährlichen Ideologie einer „jüdischen Weltverschwörung“ herangezogen. | |
Wie Goldsman sah auch Carpenter – angesichts der Unmengen an diffamierenden | |
Memes, die aus seinem zu Kult avanciertem Film gebaut wurden – sich zu | |
einem klärenden Tweet genötigt: „Bei ‚Sie leben‘ geht es um Yuppies und | |
ungezügelten Kapitalismus. Er hat nichts mit jüdischer Kontrolle über die | |
Welt zu tun, was eine Verleumdung und eine Lüge ist.“ | |
## Schlafende Mitmenschen | |
Dass gerade Sci-Fi-Titel von Verschwörungsideolog*innen herangezogen | |
werden, könnte an den zahlreichen Überschneidungspunkten liegen, die beide | |
miteinander verbinden. | |
In beiden Fällen handelt es sich um Erzählungen, die in ihren Aussagen über | |
den Zustand der Welt eine abstrakte Bedrohung zeichnen, die meist von einem | |
übermächtigen, stereotypen „Bösen“ ausgeht. Letzteres ist stets | |
hervorragend organisiert, die einzelnen Mitglieder der „dunklen Seite“ | |
definieren sich oftmals nicht durch mehr als ihre Fraktionszugehörigkeit. | |
Erstaunlicherweise richtet sich das Misstrauen sowohl bei zahlreichen | |
Genrevertretern als auch in besagten Verschwörungsmythen oftmals sogar | |
gegen die gleichen Gruppen: Wissenschaftler*innen, die Regierung und ihre | |
Apparate – oder Aliens. Komplettiert wird das Szenario schließlich durch | |
eine kleine, eingeweihte Gruppe an mutigen „Wissenden“, die sich dem Unheil | |
heldenhaft entgegenstellt. | |
Der Film, der all diese Punkte am anschaulichsten in sich vereint, zählt zu | |
den wichtigsten des Genres: [8][„Matrix“ von den Wachowskis aus dem Jahr | |
1999]. Ausgerechnet die Schlüsselszene, in der Protagonist Neo (Keanu | |
Reeves) von Morpheus (Laurence Fishburne) vor die Wahl zwischen zwei Pillen | |
gestellt wird, ist zu einer gern genutzten Metapher von | |
Antifeminist*innen und Männerrechtler*innen geworden. | |
Nur die rote Pille soll ihm die volle Wahrheit über das tatsächliche Wesen | |
der Welt offenbaren, während ihn die blaue unwissend zurück in die von | |
künstlichen Intelligenzen entworfene Scheinwelt, die titelgebende Matrix, | |
katapultiert. Kühn wählt Neo rot, wird erleuchtet und sieht sich fortan | |
nicht nur besagten Außerirdischen, sondern auch einer überwältigenden | |
Mehrheit an „schlafenden“ Mitmenschen gegenüber, die „noch nicht bereit … | |
die Wahrheit sind“. | |
## Rückversichernde Zusammenhänge | |
„Erleuchtung“ reklamieren auch besagte Ideolog*innen für sich. | |
Sinnbildlich bezeichnen sie sich selbst als „Red Pillers“, also Menschen, | |
die sich bewusst für die (schmerzhafte) Wahrheit entschieden haben. | |
Auserwählten gleich, behaupten sie ebenfalls, einen Wissensvorsprung | |
gegenüber allen anderen zu besitzen. Signifikante Aufmerksamkeit wurde der | |
zweifelhaften Selbstbezeichnung während [9][Donald Trumps Wahlkampf] | |
zuteil: Besonders hartgesottene Anhänger*innen betonten, sich bewusst | |
gegen feministische Konditionierung oder liberale Gehirnwäsche entschieden | |
zu haben. | |
Klarstellungsversuche folgten auch hier: Lilly Wachowski, die „Matrix“ | |
gemeinsam mit ihrer Schwester Lana geschrieben und inszeniert hatte, | |
erklärte vergangenes Jahr, dass die Trilogie im Grunde eine Metapher aufs | |
[10][Transgender-Sein] sei. Implizit stünden besagte Pillen eigentlich für | |
die Hormontherapie – die künstliche, über die Identität ihrer | |
Bewohner*innen bestimmende Matrix wiederum für konstruierte | |
Geschlechterbinarität. | |
Davon abhalten, den Film für ihre Zwecke zu benutzen, lassen sich die | |
Verschwörungsideolog*innen davon natürlich nicht – sie suchen lieber | |
weiterhin dort nach rückversichernden Zusammenhängen, wo sie am wenigsten | |
zu vermuten sind und jede Überprüfung ihrer Thesen vergebens scheint. Einen | |
Vorwurf kann man der Sci-Fi daraus freilich nicht machen. Die Geschichten, | |
die ihre Filme erzählen, besitzen gerade wegen ihrer Offenheit für | |
Interpretation, herausfordernder Gedankenexperimente und der Möglichkeit, | |
selbst Abstraktes auf eigene Wünsche, Hoffnungen und Ziele anzuwenden, eine | |
solche Strahlkraft. | |
Dass manch einer Narrationen lieber nutzt, um mit ihnen Missgunst, Angst | |
und Hass zu schüren, ist ein Phänomen, wofür das Genre nicht erst erfunden | |
werden musste – es ist wahrscheinlich so alt wie das Geschichtenerzählen | |
selbst. | |
5 Sep 2021 | |
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