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# taz.de -- Rettungsaktion nach Taliban-Einmarsch: Das große Bangen in Kabul
> Es ist unklar, wie viele Menschen die Bundeswehr aus Afghanistan
> ausfliegen kann. Ohne US-Hilfe ist Deutschland vor Ort machtlos.
Bild: Nur noch weg: Menschen versuchen am Montag auf den Kabuler Flughafen zu g…
Berlin taz | Die Rettungsaktion der Bundeswehr hat begonnen. Am Montag
starteten drei Transportflugzeuge vom Typ A400M Richtung Afghanistan. Mit
ihnen soll eine [1][Luftbrücke zwischen dem Kabuler Flughafen und
Taschkent], der Hauptstadt des Nachbarlands Usbekistan, aufgebaut werden.
Von dort sollen dann zivile Chartermaschinen die Ausgeflogenen abholen und
nach Deutschland bringen. Doch der Einsatz steht unter vielen Fragezeichen.
Die aktuellen Geschehnisse seien für die Menschen in Afghanistan „bitter,
dramatisch und furchtbar“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am
Montagabend in Berlin. „Wir haben alle – da übernehme ich auch die
Verantwortung – die Entwicklung falsch eingeschätzt“. Neben der Evakuierung
deutscher Staatsangehöriger sei nun das Hauptziel der Bundesregierung,
„gerade denen, die uns sehr direkt geholfen haben, eine Perspektive zu
bieten“, sagte Merkel. „Ob wir die umsetzen können, das hängt von den
Gegebenheiten jetzt in Kabul ab, das haben wir leider nicht mehr voll in
der Hand“. Die Bedingungen am Kabuler Flughafen seien „sehr schwierig“.
Vor Merkel war am späten Montagnachmittag Bundesaußenminister Heiko Maas
(SPD) in Berlin vor die Presse getreten. „Wir alle – die Bundesregierung,
die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft – wir haben die
Lage falsch eingeschätzt“, sagte er. Da gebe es „auch nichts zu
beschönigen“. Die aktuellen Bilder von den verzweifelten Menschen am
Kabuler Flughafen bezeichnete Maas als „außerordentlich schmerzhaft“. Es
komme jetzt darauf an, „so viele Menschen wie möglich aus dieser Situation
zu retten“.
Konkret bedeutet das, dass der Kreis derjenigen, die in Deutschland
aufgenommen werden sollen, erweitert wird. Auch Mitarbeiter:innen von
Nichtregierungsorganisationen, der Entwicklungshilfe sowie
Menschenrechtsaktivist:innen und Frauenrechtler:innen samt
ihren Angehörigen soll er nun umfassen, teilte Maas mit. Allerdings sei
unklar, wie diese Menschen unter den aktuellen Umständen zum Flughafen
gelangen könnten.
## Ohne amerikanische Hilfe geht es nicht
Wenig überraschend war die Lage am Hindukusch auch das bestimmende Thema in
der Sitzung des CDU-Bundesvorstands am Montag. Nach Angaben aus
Teilnehmer:innenkreisen sprach Merkel auch dort von „bitteren
Stunden“. Die [2][Entscheidung der USA] zum Truppenabzug habe einen
„Domino-Effekt“ bewirkt. „Für die vielen, die an Fortschritt und Freiheit
gebaut haben – vor allem die Frauen –, sind das bittere Ereignisse.“
Merkel soll vor dem Parteigremium auch Angaben zur Dimension des jetzigen
Rettungseinsatzes gemacht haben. Demnach war die Rede von insgesamt rund
10.000 Menschen. „Wir evakuieren nun in Zusammenarbeit mit den USA die
Menschen“, wurde die Kanzlerin zitiert. „Ohne die Hilfe der Amerikaner
könnten wir so einen Einsatz nicht machen.“
Der CDU-Vorsitzende und Unionskanzlerkandidat Armin Laschet sprach nach der
Sitzung von dem „größten Debakel, das die Nato seit ihrer Gründung
erleidet“. Es sei „eine politische und humanitäre Katastrophe“. Der West…
habe „jetzt vor Ort die moralische Verpflichtung, denjenigen zu helfen, die
uns geholfen haben und sich für ein freies Afghanistan eingesetzt haben“,
sagte Laschet.
## Enge Definition für Ortskräfte
Bislang beschränkte sich die Auswahl der zu Rettenden auf drei Gruppen.
Erstens sind das die Botschaftsangehörigen. Bereits in der Nacht zu Montag
wurden 40 Mitarbeiter:innen der deutschen Botschaft mit einem
US-Flugzeug nach Doha im Golfemirat Katar ausgeflogen. Nun befindet sich
nach Angaben des Auswärtigen Amts nur noch ein „kleines operatives
Kernteam“ von einer Handvoll Menschen im militärischen Teil des Kabuler
Flughafens.
Zweitens geht es um weitere deutsche Staatsangehörige, deren Anzahl auf
eine hohe zweistellige Zahl taxiert wird. Und dann kommen drittens jene,
die nach einer engen Definition als Ortskräfte erfasst sind.
Danach müssen diese afghanischen Helfer:innen in den vergangenen zwei
Jahren direkt bei einer deutschen Stelle angestellt gewesen sein, zum
Beispiel dem Auswärtigen Amt oder dem Entwicklungshilfeministerium. Wer für
das Verteidigungs- oder das Innenministerium gearbeitet hat, für den gilt
ein Zeitraum ab 2013.
Wer für ein Subunternehmen oder eine Hilfsorganisation tätig war, fielt
hingegen nicht darunter. Das galt auch für journalistische Helfer:innen
deutscher Medien, die ebenfalls um ihr Leben bangen müssen.
## Evakuierung, „so lange es möglich ist“
„Unsere Priorität liegt zunächst bei den deutschen Staatsangehörigen vor
Ort und bei den Ortskräften der Bundesregierung“, sagte Außenamtssprecher
Christofer Burger am Montag in der Bundespressekonferenz. Sie seien
aufgerufen worden, „sich an den sichersten Ort zu begeben, den sie finden
können“, und darauf zu warten, dass sie kontaktiert werden.
Dringend riet er davon ab, sich auf eigene Faust zum Kabuler Flughafen
durchschlagen zu wollen, „weil das riskant sein kann“. Die Situation in und
um den Flughafen sei derzeit „sehr, sehr unübersichtlich“.
Aber was machen die Betroffenen, wenn sie dann kontaktiert werden? Dann
wird ihnen wohl doch nichts anderes übrigbleiben, als alleine einen Weg zum
Flughafen zu finden. „Ich kann ihnen nicht sagen, ob wir im Einzelfall
Möglichkeiten haben, Hilfestellung zu leisten bei der Anfahrt“, sagte
Ministeriumssprecher Burger. „Ich gehe davon aus, dass das im Regelfall
nicht der Fall sein wird, weil wir derzeit ja über keine eigenen deutschen
Kräfte in der Stadt Kabul verfügen.“
Derzeit ist völlig unklar, wie viele Menschen überhaupt noch aus
Afghanistan herausgebracht werden können. Denn die eingesetzten
Bundeswehrmaschinen bieten nur Platz für jeweils 116 Passagiere. Wie viele
Flüge werden sie machen können? Allerdings sollen auch US-Maschinen genutzt
werden können.
„So lange es möglich ist, wird die Bundeswehr so viele Menschen wie möglich
aus Afghanistan rausholen und die Luftbrücke aufrechterhalten“, wurde
Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) aus der
CDU-Bundesvorstandssitzung zitiert. Dies hänge vor allem von der
Unterstützung der US-Truppen ab, den Flughafen in Kabul offen zu halten.
## Linke: „Potemkinsche Dörfer errichtet“
„Die Bundesregierung hat die Lage in Afghanistan bis zuletzt völlig falsch
eingeschätzt“, kritisierte der verteidigungspolitische Sprecher der
Linksfraktion, Tobias Pflüger. „Die Fehlannahme war, dass man nur
militärisch ausbilden und ausrüsten muss und dann funktioniert das schon“,
sagte er der taz. Die Nato und die Bundeswehr hätten „hier regelrechte
Potemkinsche Dörfer errichtet“.
Bei dem „Knall auf Fall“-Abzug aus Afghanistan habe die Bundesregierung
dann die Prioritäten allein darauf gelegt, die Bundeswehr und das
militärische Gerät zurückzuholen. „Die Bundeswehr hat bei ihren Flügen ra…
aus Afghanistan zwar Rest-Bier und Gedenksteine mitgenommen, aber kaum
Ortskräfte“, sagte Pflüger. „Das ist und bleibt skandalös.“
Wie sowohl das SPD-geführte Außenministerium wie auch das CSU-geführte
Innenministerium die Lage immer wieder schöngeredet hätten, sei
„unverantwortlich“, sagte Pflüger. Bis vor Kurzem habe die Bundesregierung
ja sogar noch Abschiebungen nach Afghanistan vorgesehen.
Die Regierung müsse jetzt das tun, was sie schon vor und während dem Abzug
hätte tun sollen: sich um alle unterstützenden Kräfte kümmern, also auch um
Mitarbeiter:innen bei der Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit sowie von nichtstaatlichen NGOs, Hilfs- und
Entwicklungshilfeorganisationen und deutscher Medien.
## FDP-Sprecher: Situation „erschütternd und brandgefährlich“
Außerdem forderte Pflüger, der auch stellvertretender Vorsitzender der
Linkspartei ist, es müssten nun auch Konsequenzen für einen weiteren
deutschen Auslandseinsatz gezogen werden: „Nach diesem Desaster am
Hindukusch kann die Bundeswehr in Mali nicht weiter machen, als sei nichts
passiert.“
Der außenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Bijan Djir-Sarai,
bezeichnete die Situation in Afghanistan als „erschütternd und
brandgefährlich“. Die schnelle und sichere Evakuierung der deutschen
Staatsbürger, der afghanischen Ortskräfte und freien journalistischen
Mitarbeiter müsse für die Bundesregierung oberste Priorität haben. „Es darf
niemand zurückgelassen werden“, forderte Djir-Sarai.
Auf den für Mittwoch geplanten Sondersitzungen des Auswärtigen und des
Verteidigungsausschusses müsse die Bundesregierung „erklären, wie sie die
dramatische Zuspitzung vor Ort derart verschlafen konnte und warum sie so
schlecht auf die Evakuierung vorbereitet war“, sagte der FDP-Abgeordnete.
## Grüne: Klare Kontingente auflegen
Auch Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock griff die Bundesregierung
scharf an. Jetzt zeige sich, „wie fatal es war, dass man von Seiten der
deutschen Bundesregierung, des Auswärtigen Amts, die Augen vor der Realität
verschlossen hat“, sagte sie am Montag bei einem Besuch in Frankfurt an der
Oder.
„Wir hatten bereits vor dem Beginn der Sommerpause im Deutschen Bundestag
beantragt, Menschen zu evakuieren“, sagte Baerbock. „Das ist nicht getan
worden, man hat es einfach negiert.“ Für den Antrag hatte am 23. Juni neben
den Grünen nur die Linkspartei gestimmt.
Es sei nun „mehr als überfällig, dass die deutsche Bundesregierung endlich
alles dafür tut, die Menschen zu evakuieren“, forderte die
Grünen-Vorsitzende. Die Regierung müsse gemeinsam mit den Nato-Partnern
„Kontingente im fünfstelligen Bereich“ auflegen, um Menschen in Sicherheit
zu bringen. Es gehe jetzt „vor allen Dingen darum, die Menschen sofort
herauszuholen, die mit dem Tod bedroht sind, weil sie eben mit Nato-Kräften
zusammengearbeitet haben“.
Bei ihrem Auftritt in Frankfurt an der Oder wurde Baerbock vom früheren
grünen Außenminister Joschka Fischer begleitet, der 2001 gegen heftige
innerparteiliche Widerstände für die deutsche Beteiligung am
Afghanistan-Krieg geworben hatte. Er habe nicht damit gerechnet, „dass es
zu einer solch überstürzten Abzugsentscheidung kommt“, sagte der frühere
Grünen-Politiker.
Seine damalige Entscheidung rechtfertigte er. Sie sei eine zwingende
Notwendigkeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gewesen. „Die USA
waren der wichtigste Sicherheitsgarant, und da war Solidarität angesagt“,
sagte Fischer. „Insofern stehe ich zu diesem Einsatz.“
16 Aug 2021
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## AUTOREN
Pascal Beucker
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