# taz.de -- Proteste in Belarus – ein Jahr danach: Fotos aus einem anderen Le… | |
> Vor einem Jahr protestierten Zehntausende Belaruss*innen gegen | |
> Machthaber Lukaschenko. Doch der ist immer noch da. Und die Angst ist | |
> zurück. | |
Bild: Protest in Minsk: Der Beginn der Proteste ist ein Jahr her, doch Lukasche… | |
In meinem Telefon ist nur noch wenig Platz, deshalb habe ich beschlossen, | |
einige Fotos zu löschen. Und so klicke ich mich durch Fotos und Videos vom | |
vergangenen Jahr und traue meinen Augen nicht. Das ist ein anderes Leben. | |
Ein Leben, das es nicht mehr gibt. Die drei „Grazien“, wie die | |
Belaruss*innen den Frauenwahlstab von Veronika Zepkalo, Swetlana | |
Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa genannt haben, halten in einem großen | |
Stadtpark eine Wahlkampfveranstaltung ab. | |
Veronika spricht davon, dass viele Belaruss*innen wegen der ungünstigen | |
wirtschaftlichen Lage weggingen: „Jedes Jahr, man stelle sich das vor, | |
verlassen 40.000 Menschen Belarus. So viele Einwohner*innen, wie zwei | |
mittelgroße Städte. Wir verlieren unser Volk!“ | |
Aus heutiger Sicht erscheinen diese Worte naiv. Allein in diesem Jahr haben | |
Hunderttausende Belarus den Rücken gekehrt. Der Exodus geht weiter, um sich | |
in Sicherheit zu bringen. Diese Emigration ist erzwungen, ungerecht und | |
schrecklich. Innerhalb von zwei Stunden packst du zusammen und denkst, dass | |
du in einem oder zwei Monaten wieder zurückkehrst. Letztendlich findest du | |
dich in einem unbekannten Land wieder, praktisch ohne Geld und das für | |
mindestens ein halbes Jahr. | |
Genau das ist meiner Freundin Anna passiert. Sie musste überstürzt nach | |
Vilnius ausreisen. Zuvor war sie von den Sicherheitsbehörden vorgeladen | |
worden, weil sie sich in den sozialen Netzwerken geäußert hatte. | |
## Oppositionelle: Maria Kolesnikowa und Wiktor Babariko | |
Ich klicke mich weiter durch die Fotos. Auf einem umarmt mich Maria | |
Kolesnikowa und sagt: „Janka, ich werde dir niemals verzeihen, dass du es | |
abgelehnt hast, für unseren Pressedienst zu arbeiten ([1][für den | |
Präsidentschaftskandidaten Wiktor Babariko])“. Sie lächelt dabei. | |
Maria kenne ich seit 2015. Da war sie noch Flötistin und pendelte zwischen | |
Minsk und Stuttgart. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass Maria eine | |
politische Führungspersönlichkeit werden würde, hätte ich das nicht | |
geglaubt. | |
Heute verstehe ich: Hätte ich zugestimmt, für Babarikos Kampagne zu | |
arbeiten, hätte ich heute diese Zeilen für die taz wohl nicht schreiben | |
können. Denn ich wäre dort gewesen, wo Maria Kolesnikowa und Wiktor | |
Babariko jetzt sind – im Gefängnis. | |
Und mir und meinem Kumpel Andrei Aleksandrow hätten 15 Jahre | |
Freiheitsentzug wegen Landesverrats gedroht. Das ist schon Wahnsinn, | |
[2][wenn du Menschen hilfst, ihre Geldstrafen wegen der Teilnahme an einer | |
Protestaktion zu bezahlen], und dir dann unterstellt wird, du würdest sie | |
finanzieren. | |
## Glaube an Veränderung | |
Und da, ein Foto von den ersten Protestaktionen. Frauen in weißen Kleidern | |
haben eine Menschenkette der Solidarität gebildet. Ein Mann hat einen Arm | |
voll Rosen gekauft und verteilt die Blumen. Wo habe ich sein Gesicht schon | |
einmal gesehen? Ach ja, genau, das ist [3][Stepan Latypow – der Mann, der | |
jetzt nur deswegen in Haft ist, weil er Polizeikräfte gefragt hat, was sie | |
im Hof seines Hauses täten.] | |
Ein anderes Foto: Da stehe ich mit einem Plakat in der Hand, auf dem in | |
belarussischer Sprache steht: „Zähl uns einfach!“ Das ist ein Appell an die | |
Leiterin der Zentralen Wahlkommission Lidia Jermoschina, die verkündet | |
hatte, dass 80 Prozent der Belaruss*innen für Alexander Lukaschenko | |
gestimmt hätten. Freunde von mir waren Beobachter*innen in Wahllokalen | |
und wissen ganz genau, dass diese Zahl eine Fälschung ist. | |
Ich klicke mich weiter durch die Fotos und beginne zu weinen. Ich sehe | |
Schauspieler*innen des Freien Theaters, sie drehen mit dem Regisseur | |
Aleksei Polujan gerade den Film „Courage“, der auf dem Festival Berlinale | |
Special gezeigt wurde. Sie alle waren gezwungen, das Land zu verlassen. | |
Ich sehe meine Kolleg*innen aus dem Presseclub, die seit Anfang des | |
Jahres im Gefängnis sind, weil sie angeblich keine Steuern gezahlt haben. | |
Wir lächeln alle, sind voller Hoffnung. Und tatsächlich, wir haben Mut | |
geschöpft. Wir glaubten an Veränderungen. Aber da wissen wir noch nicht, | |
wie schrecklich diese Veränderungen für uns werden würden. | |
## Nachbarschaftliche Solidarität in den Hinterhöfen | |
Ein anderes Foto: Ich binde mit meinen Nachbarn rote und weiße Bändchen an | |
einen Zaun. Dann essen wir Torte und trinken Tee. Wir wissen noch nicht, | |
dass bei den Betreibern des Hofchats auf Telegram bald Hausdurchsuchungen | |
stattfinden und sie Belarus verlassen müssen. | |
Ich kann diese Fotos nicht löschen, sie sind meine Geschichte, meine | |
Hoffnung. Das ist wie eine Retrospektive der Zivilgesellschaft, eine | |
Fixierung der Ereignisse, wie der Faschismus im 21. Jahrhundert nach Europa | |
zurückgekehrt ist. | |
Ja, ich weiß, dass das schrecklich klingt. Aber das, was in meinem Land | |
passiert, das ist Faschismus und ein Genozid am belarussischen Volk. In | |
Belarus hat eine verbrecherische politische Gruppe die Macht an sich | |
gerissen, der nichts heilig ist und an deren Händen Blut klebt. Sie | |
versucht, alle kritisch denkenden Menschen in die Emigration zu drängen. | |
Wenn eine Person nicht freiwillig geht, dann bedeutet das, sie fährt ein. | |
Das Ergebnis ist: Es bleiben nur diejenigen, die für Lukaschenko, für | |
„Stabilität“ sind. „Bei uns herrscht kein Krieg, ich habe Brot mit Butte… | |
Das ist ein Satz, wie ein/e vorbildliche/r Belaruss*in nach Meinung der | |
Staatsmacht sein sollte. Aber das ist eine Philosophie der Sklaverei. | |
## Staatlicher Ausverkauf | |
Fragt mich jemand, welche Perspektiven ich sehe, sage ich mit Bedauern: Wir | |
werden zum Schnäppchenpreis an Russland verkauft. Lukaschenko übergibt mein | |
Vaterland an Präsident Wladimir Putin. Um seines eigenen Vorteils willen, | |
ist er zu allem bereit. Er hat klar davon gesprochen, dass russische Panzer | |
schon morgen einrücken könnten. Er glaubt nicht daran, dass ihn dasselbe | |
Schicksal wie Ceaușescu (rumänischer Diktator, er wurde am 25. Dezember | |
1989 hingerichtet; d. Red.) ereilen könnte. | |
Aber offen gesagt ist Lukaschenko bereits ein politischer Leichnam. Und | |
wenn Putin zu dem Schluss kommt, dass er eine Provinz Belarus braucht, wird | |
Lukaschenko entfernt – physisch. Einen psychisch instabilen Gouverneur | |
braucht Russland nicht. Leider muss ich feststellen, dass das belarussische | |
Volk nicht so leidenschaftlich ist, wie die Ukrainer*innen. Es lässt zu, | |
sich verspotten und aus dem Haus werfen zu lassen. Es lässt zu, dass seine | |
Unabhängigkeit verkauft wird. | |
## Das Ende der Euphorie | |
Noch vor einem Jahr waren wir voller Hoffnung, wir versuchten zu | |
protestieren, doch jetzt ist die Zeit der Depressionen angebrochen – der | |
Depressionen und Repressionen. | |
Die Menschen gehen nicht mehr auf die Straße. Niemand zündet mehr in der | |
Öffentlichkeit Kerzen im Gedenken an die Gestorbenen an, niemand geht mehr | |
in weiß-roter Kleidung hinaus. Wir sitzen still in der Küche und trinken | |
verbittert Wodka. Und wir hoffen auf ein Wunder. Doch kann es ein Wunder | |
geben, wenn wir nichts tun? Ich habe keine Antwort auf die Frage: „Was wird | |
sein?“ | |
Ich lebe von Tag zu Tag und habe Angst, dass jemand an die Tür klopft. Ich | |
versuche, so gut wie möglich meine Familie zu schützen. Ich will mein Land | |
nicht verlassen. Hier ist mein Zuhause, meine Heimat. | |
Für die taz schreibe ich unter Pseudonym, damit sie mich nicht finden und | |
in der Hoffnung, dass es Deutschland nicht egal ist, was in Belarus | |
passiert. | |
Als wir uns mit der taz das [4][„Minsker Tagebuch“] ausgedacht haben, | |
konnten wir nicht ahnen, dass dieses Projekt so lange dauern würde. Ich | |
möchte so gerne eine Folge schreiben, in der ich die Geburt eines neuen | |
Belarus feiere, ohne Lukaschenko. An diesem Tag wird in Belarus der Sekt | |
ausgehen, weil die Menschen auf den Straßen alle miteinander anstoßen. Ich | |
glaube, dass dieser Tag kommen wird. Bestimmt. | |
Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
21 Aug 2021 | |
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