Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Schulforscher über aktuelle Lernstände: „Nötig ist ein stärke…
> Wo stehen Schüler*innen in Bremerhaven nach einem Jahr Pandemie? Der
> Leiter der Lernstandsuntersuchung erklärt die Situation und die Bedarfe.
Bild: Sich selbst zum Lernen zu motivieren, ist schwer – unabhängig von der …
taz: Herr Vieluf, gab es in der Lernstandserhebung Ergebnisse, die Sie
persönlich überrascht haben?
Ulrich Vieluf: Wir hatten enge Zusammenhänge zwischen den erreichten
Lernständen und den häuslichen Rahmenbedingungen wie technische Ausstattung
oder ruhiger Arbeitsplatz erwartet. Man kann aber aufgrund der Ergebnisse
der Lernstandserhebung nicht sagen, dass Schüler:innen aus
benachteiligten Milieus durch die Pandemie geringere Lernerfolge gehabt
haben als jene aus privilegierteren Verhältnissen. Wir haben also keine
Hinweise darauf, dass sich in den Bremerhavener Schulen die soziale Schere
durch den Distanzunterricht weiter geöffnet hat.
Können Sie sagen, woran das liegt?
Da gibt es den subjektiven Faktor: Es hängt davon ab, wie die Kinder die
Situation empfinden und bewältigen, und nicht, wie wir die Situation von
außen bewerten. Um ungestört zu arbeiten, braucht man nicht unbedingt ein
eigenes Arbeitszimmer. Die Fähigkeit, sich in den Familien an diese
Situation anzupassen, ist offenbar deutlich höher gewesen, als wir erwartet
hatten.
Was sind zentrale Erkenntnisse aus der Untersuchung?
Wir können zeigen, dass Schüler:innen in Bremerhaven von Jahrgang zu
Jahrgang näher an die deutschlandweiten Standardwerte vor Corona
herankommen. In den Klassen vier bis sechs ist noch die Hälfte der Kinder
im unterdurchschnittlichen Leistungsbereich, in der achten Klasse sind es
schon 20 Prozent weniger, während die Leistungsspitze immer größer wird.
Das Gesamtergebnis ist zwar immer noch unterdurchschnittlich, aber der
Abstand wird mit den Jahren geringer. Das sind Erkenntnisse, die bei
Querschnittuntersuchungen nicht sichtbar werden.
Kann man da schon von Erfolgen sprechen?
Aber ja. Die Verringerung der Abstände lässt auf überdurchschnittliche
Lernfortschritte schließen.
Was muss im nächsten Schuljahr am dringendsten angegangen werden?
Das Allerwichtigste wird sein, die Lese- und Schreibkompetenz in den
Mittelpunkt zu stellen. Hier macht sich das Fehlen der Lerngemeinschaften
am stärksten bemerkbar. Dies sollte aber etwa mit Lesenächten,
Autorenlesungen oder Theater und nicht mit Arbeitsblättern und Nachhilfe
angegangen werden. Die Schüler:innen gleich zu Anfang mit vermeintlichen
Defiziten zu konfrontieren, wäre fatal.
Defizite im Sinne von Versäumnissen?
Was die Untersuchung auch gezeigt hat, ist, dass es keinen Beleg dafür gibt
zu sagen, dass nichts stattgefunden habe. Zu behaupten, es sei ein
verlorenes Jahr gewesen, ist eine Missachtung der Leistungen der Schulen
und Familien, die sich enorm engagiert haben. Die medial oft zitierte
Phrase einer Lost Generation hilft gerade nicht. Wenn man jungen Menschen
einredet, sie hätten ein Jahr verloren, verstärkt das ihre Verunsicherung.
Pädagogisch geht es jetzt auch darum, positive Lernerfahrungen zu
vermitteln, denn ein stärkendes Feedback in der Lerngemeinschaft haben
Schüler:innen jetzt ein Jahr kaum gehabt. Gerade das Vertrauen in die
Selbstwirksamkeit ist für den Lernerfolg wichtig.
Motivation ist momentan also wichtiger als die Inhalte?
Man kann die Lernzeit ja nicht einfach beliebig ausdehnen. Jetzt in die
Vollen zu gehen und versäumte Lektionen nachholen zu wollen, wäre der
verkehrte Weg. Schulen müssen ihre Schüler:innen erst einmal ankommen
lassen – ohne Eile und Hektik.
Das klingt, als bräuchte es dafür viel mehr Lehrkräfte.
Die gibt es nicht auf dem Markt. Wir können aber auf andere Lernformen
aufbauen. Hier können wir an die Pandemie-Erfahrungen anknüpfen und Formen
selbstregulativen Lernens stärken.
Trotzdem müssen die Schüler:innen beim Lernen begleitet werden.
Und genau deshalb plädiere ich für möglichst viele Kooperationen. Holen wir
doch die Künstler:innen, das Handwerk, die Hochschulen und die Sportvereine
in die Schulen. Die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen, ist sinnvoller als
zu klagen, dass es zu wenig Lehrkräfte gibt.
Sie haben auch die emotionale Situation der Schüler:innen erfragt.
Mehr als die Hälfte der Teilnehmenden hat angegeben, dass sie unter den
Rahmenbedingungen gelitten haben – und zwar quer durch alle sozialen
Schichten und Jahrgangsstufen. Trotz digitaler Unterstützung ist ein
eigenverantwortliches Lernen für viele unvertraut und darum schwierig
gewesen. Sich tagtäglich zum Lernen zu motivieren, ist Schüler:innen vor
allem in den höheren Jahrgangsstufen nicht leicht gefallen. Andere waren
stark verunsichert oder haben sich über einen langen Zeitraum gelangweilt.
Dass Schüler:innen an die Grenze dessen, was sie aushalten können,
gekommen sind, müssen wir sehr ernst nehmen.
Was heißt es denn konkret, diese Tatsache ernst zu nehmen?
Das Gemeinschaftsleben und -erleben muss in den Mittelpunkt gestellt
werden, zum Beispiel durch gemeinsame Unternehmungen, die möglichst
bildungshaltig sind, aber nicht verschult. Viele starten jetzt etwa mit
Klassenfahrten. Auch die Schulsozialarbeit muss gestärkt werden. Hier sind
Bündnisse mit der Jugendhilfe gefragt. Die Kooperation mit den
Jugendhilfeeinrichtungen sollte ausgebaut werden, und das möglichst
zeitnah.
6 Sep 2021
## AUTOREN
Teresa Wolny
## TAGS
Bremerhaven
Schule und Corona
soziale Ungleichheit
Soziale Spaltung
Lernen
Schule und Corona
Homeschooling
Schwerpunkt Coronavirus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Umfrage zu Lernrückständen: Ausgebremste Bildung
Schüler:innen und Eltern fürchten, dass in der Pandemie Bildungslücken
entstanden sind. Gut durch die Krise kamen wohl jene, die ohnehin kaum
Lernprobleme haben.
Geflüchtete und Homeschooling: Am falschen Ende gespart
Der Senat will benachteiligte Kinder beim Homeschooling unterstützen. Dazu
bräuchte es als erstes Internet in allen Flüchtlingsheimen.
Hamburgs Schulsenator zum Schulbetrieb: „Wir wollen Regelunterricht“
Ties Rabe hofft, dass nach den Sommerferien Präsenzunterricht für alle
möglich ist. Sonst drohe die soziale Spaltung im Bildungssystem tiefer zu
werden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.