# taz.de -- Taliban-Sieg in Afghanistan: Indien verliert alten Verbündeten | |
> Indien hat in Afghanistan zweieinhalb Milliarden Euro investiert. Mit der | |
> Rückkehr der Taliban wächst Chinas und Pakistans Einfluss in der Region. | |
Bild: Kollabierter Flüchtling aus Afghanistan bei einer Veranstaltung in Delhi… | |
Neu Delhi taz | Als Musiker Monir Faqiri vor zehn Jahren aus Afghanistan | |
nach Delhi floh, waren es Drohungen der Taliban, die ihn zu diesem | |
Entschluss gebracht hatten. Denn Faqiri unterrichtete Frauen. „Seitdem hat | |
sich abgezeichnet, dass sich die Lage im Land nur verschlechtert“, sagt er | |
im Gespräch. Der Familienvater baute sich in Indien eine neue Existenz auf, | |
die er nun aber bedroht sieht. Bis zuletzt produzierte er Musik für den | |
afghanischen Markt. Mit der Rückkehr der Taliban an die Macht könnte er | |
bald seinen Absatzmarkt verlieren. | |
Vor der Covid-19-Pandemie habe es zwischen Afghanistan und Indien einen | |
regen Austausch gegeben, sagt Faqiri. „Mehrmals am Tag gab es Flüge nach | |
Kabul“, erinnert sich der 48-Jährige. Die Flugzeit aus Delhi beträgt nur | |
zwei Stunden. Dann stoppte die Pandemie alles. Inzwischen hat sich die | |
Coronalage in Indien wieder beruhigt, doch nun haben die Taliban | |
Afghanistan zurückerobert – eine Entwicklung, die den Musiker zwar vor dem | |
Hintergrund der im Land verbreiteten Korruption, des spaltenden | |
Nationalismus und des Einflusses Pakistans nicht überrascht, doch um | |
Angehörige und Bekannte bangen lässt. | |
„Wir können uns selbst kaum helfen“, sagt Faqiri. Dennoch organisiert er | |
sich mit anderen aus der afghanischen Community. Sie wollen vor dem Gebäude | |
des UN-Flüchtlingshilfswerks in Delhi protestieren. Als Geflüchteter hat | |
Faqiri in Indien selbst nur begrenzte Arbeitsmöglichkeiten, doch er ist | |
froh um seine neue Heimat. | |
Etwa 20.000 Afghan:innen leben im Süden der indischen Hauptstadt. Die | |
meisten sind Geflüchtete oder Studierende. Letztere kamen vor allem mit | |
Stipendien nach Indien. Etwa 2,6 Milliarden Euro hat Indien als Aufbauhilfe | |
in Afghanistan in den vergangenen Jahren ausgegeben. Mit dem Geld wurden | |
über 500 Infrastruktur- und Entwicklungsprojekte finanziert: neben Schulen, | |
Straßen und Dämmen etwa der Bau des Parlamentsgebäudes in Kabul, das 2015 | |
eingeweiht wurde und dessen Fertigstellung knapp 80 Millionen Euro gekostet | |
hat. | |
## Musikalischer Austausch | |
Die indisch-afghanischen Beziehungen waren gut, hört man aus der | |
afghanischen Community in Delhi. Auch der musikalische Austausch wurde | |
gepflegt. Die fragile Demokratie Afghanistans zählte zu den wenigen | |
Freunden Indiens in einer Region, die zunehmend von [1][China] dominiert | |
wird. Indien war ein verlässlicher Bündnispartner der von der Nato | |
unterstützten Regierung in Kabul, die nun vor den Taliban geflohen ist. | |
Mit der Rückkehr der Taliban in Afghanistan nimmt neben dem chinesischen | |
auch der pakistanische Einfluss in der Region zu. Pakistan ist Indiens | |
Erzrivale. Im Gegensatz zu China hat Indien erst spät den Kontakt zu den | |
Taliban aufgenommen. Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar sagte, | |
die Beziehungen zum afghanischen Volk würden selbstverständlich | |
fortbestehen, und betonte die historische Beziehung zwischen den Ländern. | |
Bisher hat Indien aber nicht signalisiert, dass es die Taliban als | |
Regierung anerkennen wird. | |
Der Talibansieg beeinflusst muslimische Jugendliche im indischen Teil der | |
Krisenregion Jammu und Kaschmir, die durch die prohinduistische Agenda der | |
indischen Regierungspartei enttäuscht sind und sich zunehmend | |
radikalisieren. Aber auch für andere Nachbarn wie Tadschikistan, Usbekistan | |
oder Iran, wo die meisten afghanischen Geflüchteten leben, ist der | |
Machtwechsel in Kabul kein guter Vorbote. | |
Es wächst die Sorge vor einem Kollaps Afghanistans, der zu weiteren Unruhen | |
und Terror führen könnte. Indische Medien warnen, dass den Taliban Soldaten | |
zur Verfügung stehen, die an ausländischen Waffen der bisherigen | |
afghanischen Armee trainiert worden sind. | |
## Genaue Umstände ungeklärt | |
Ein Alarmsignal war die Ermordung des indischen Fotografen Danish Siddiqui | |
in Afghanistan im Juli. Siddiqui wurde bei einem Zusammenstoß afghanischer | |
Sicherheitskräfte mit Talibankämpfern im Süden Afghanistans in der Nähe | |
eines Grenzübergangs zu Pakistan getötet. Die genauen Umstände sind | |
ungeklärt, die Taliban weisen jede Schuld von sich. | |
Zum zweiten Mal in der jüngeren Geschichte haben nun indische | |
Botschaftsangehörige Afghanistan verlassen. Indische Staatsbürger:innen | |
und Diplomat:innen wurden ausgeflogen, die Evakuierung läuft noch. | |
Zunächst kündigte Indien ein Notfallvisaprogramm für Afghan:innen aus | |
den nichtmuslimischen und damit gefährdeteren Minderheiten an. Auch | |
Afghan:innen, die an indischen Projekten beteiligt waren, wurde Hilfe | |
zugesagt. | |
Verschiedene Studierendenorganisationen meldeten sich unterdessen, um | |
Afghan:innen zu identifizieren und zu unterstützen, die an Hochschulen | |
in Indien studieren. Jedoch befanden sich nicht alle in Indien, als die | |
Taliban die Macht übernahmen. Einige bangen zudem in Indien um ihre Visa. | |
Es sind über 4.000 Afghan:innen, die in Indien studieren und nun in eine | |
ungewisse Zukunft blicken. Wer ein Studierendenvisum hat, darf keine Arbeit | |
annehmen. Nun wird es schwer, den Aufenthalt in Indien zu finanzieren; auf | |
Unterstützung von zu Hause können viele nicht mehr bauen. | |
## Kein Rückflug trotz Ticket | |
Studierendenvertreter erreichten Bitten um Hilfe, um den Lebensunterhalt zu | |
bestreiten. Andere Studierende stecken in Afghanistan fest wie der | |
Chemiedoktorand Rustam Tamin, 39. „Ich bin vor zwei Wochen nach Kabul | |
geflogen, um meiner Familie zu helfen, nun sitze ich hier fest“, sagt Tamin | |
am Telefon. Er studiert an der Jawaharlal Nehru University (JNU) in Delhi. | |
Ein Rückflugticket hatte er schon, doch er konnte den Flug nicht antreten. | |
„Ich hatte nicht erwartet, dass die Taliban das Land in wenigen Tagen unter | |
ihre Kontrolle bringen würden.“ Er schätzt, dass rund 500 weitere | |
Stipendiat:innen derzeit versuchen, nach Indien zu kommen. | |
20 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Natalie Mayroth | |
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