# taz.de -- Stiko-Chef Mertens zur Nachimpfung: „Erkenntnisse brauchen Zeit“ | |
> Sollen Risikogruppen nachgeimpft werden? Stiko-Chef Thomas Mertens findet | |
> das politisch verständlich, wissenschaftlich sei das aber nicht gedeckt. | |
Bild: Dritter Shot? Viele haben nicht einmal den ersten! Open-Air-Festival im J… | |
taz: Herr Mertens, gerade mal die Hälfte der Bevölkerung ist voll geimpft, | |
da reden wir schon von Auffrischungsimpfungen. Ist das wirklich nötig? | |
Thomas Mertens: Es gibt ganz sicher Gruppen von Menschen, bei denen eine | |
baldige Nachimpfung sinnvoll ist, dazu gehören vor allem immunsupprimierte | |
Menschen. | |
Also Menschen, deren Immunsystem nach einer Organtransplantation | |
unterdrückt wird. | |
Zum Beispiel. Außerdem wissen wir aus Laborstudien, dass ältere Menschen im | |
Durchschnitt schlechtere Immunantworten haben als jüngere und dass diese | |
Immunreaktion auch über die Zeit nachlässt. | |
Sie könnten also nach gewisser Zeit trotz Impfung schwer an Covid-19 | |
erkranken? | |
Das wissen wir noch nicht. Die Frage der Dauer des Impfschutzes vor | |
Erkrankung ist derzeit wissenschaftlich nicht beantwortet. Die Laborwerte | |
geben da nur eine Hilfestellung, sind aber ganz sicher keine absolute | |
Antwort. | |
Warum wird überhaupt davon ausgegangen, dass die Impfung nicht lebenslang | |
hält wie bei Masern oder wenigstens zehn Jahre wie bei Tetanus? | |
Das hängt zum einen mit dem Impfstoff zusammen. Die Impfstoffe müssen im | |
Idealfall das gesamte Immunsystem „scharf“ machen. Nun wissen wir aber, | |
dass die Impfstoffe, die wir derzeit verwenden, sehr gezielt | |
neutralisierende Antikörper und eine T-Zell-Immunität generieren. Diese | |
Immunantwort ist aber nicht so breit wie bei jemandem, der eine Infektion | |
durchgemacht hat, weil da noch andere Antigene ins Spiel kommen. | |
Und der andere Faktor? | |
… ist der Erreger selbst. Es gibt Viren wie das Poliovirus oder das | |
Hepatitis-A-Virus, die auch bei natürlicher Infektion eine lebenslange | |
Immunität hinterlassen. Und es gibt andere Viren, bei denen das nicht der | |
Fall ist. Das gilt gerade auch für die Corona-Schnupfen-Viren, die schon | |
lange bei uns unterwegs sind. Es war also schon vorher anzunehmen, dass es | |
auch bei Sars-Cov-2 nicht zu einer lebenslangen Immunität kommt. | |
Kann es aber sein, dass bei jüngeren Menschen mit einer guten Immunantwort | |
der Impfschutz mehrere Jahre andauert? | |
Das kann gut sein. Aber wie gesagt: Wir wissen noch nicht, welche Gruppe | |
von Geimpften wie lange geschützt ist. | |
Woher kommen eigentlich die Studienergebnisse zum empfohlenen Zeitpunkt von | |
Nachimpfungen? Etwa von den Impfherstellern wie jüngst von Biontech/Pfizer, | |
die empfehlen, schon nach 6 Monaten aufzufrischen? | |
Die Hersteller kennen aus den Zulassungsstudien bereits die Menschen, die | |
sehr früh ihre Grundimmunisierung bekommen haben, und die sollte man | |
natürlich unbedingt nachverfolgen. Gerade hier kann ich gut überwachen, wie | |
sich die Immunantwort über die Zeit verhält und ob es Infektionen und | |
Erkrankungen trotz Impfung gibt. Man müsste eigentlich die Hersteller dazu | |
verpflichten, das langfristig zu tun. | |
Gleichzeitig schrillen da aber die Alarmglocken: Es sind ja gerade die | |
Hersteller, die ein hohes finanzielles Interesse an der Notwendigkeit von | |
Auffrischungsimpfungen haben. | |
Die FDA (die US-Arzneimittelbehörde; d. Red.) hat genau aus diesem Grund | |
auch zurückhaltend auf die Pfizer-Meldung reagiert und gesagt, wir brauchen | |
noch mehr Daten zur Notwendigkeit und zum notwendigen Zeitpunkt der | |
Impfung. | |
Gibt es Impfstoffe, für die Sie eine schnellere notwendige Nachimpfung | |
erwarten – zum Beispiel beim Einmalimpfstoff von Johnson & Johnson? | |
Ja, es gibt erste Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass man bei Johnson | |
& Johnson wahrscheinlich nachimpfen muss. | |
Also können sich Johnson & Johnson-Geimpfte schon mal darauf einstellen, | |
dass sie früher als andere, vielleicht schon diesen Herbst oder Winter, | |
nachimpfen sollten? | |
Das kann man vermuten, ja. | |
Ist bei den Auffrischungsimpfungen der Impfstoff dann beliebig mischbar | |
oder sollte man doch wieder denselben Impfstoff verwenden? | |
Beliebig mischbar sicher nicht. Aber mittlerweile wissen wir, dass [1][die | |
Kombination] – erst Vektorimpfstoff, dann mRNA-Impfstoff – sehr gut | |
funktioniert. Insofern ist bezogen auf Johnson & Johnson auch recht einfach | |
zu sagen, dass man die Auffrischungsimpfung mit einem mRNA-Impfstoff machen | |
sollte. | |
Die Auffrischungsimpfungen sind ja vor allem auch vor dem Hintergrund der | |
Deltavariante relevant. Sollte man dann nicht die angepassten Impfstoffe | |
abwarten, oder dauert das eh noch zu lang? | |
Es gibt schon Studien mit an die Deltavariante angepassten Impfstoffen – | |
bei den mRNA-Impfstoffen ist das ja nicht so kompliziert. Ich vermute aber, | |
dass es noch bis in den Herbst dauern wird, bis die zur Verfügung stehen. | |
Andererseits ist man ja immer wieder erstaunt, wie die Dinge in dieser Zeit | |
beschleunigt werden. | |
Kann man von zu viel Impfung auch krank werden? | |
Tetanus wurde ja eine Zeit lang quasi bei jeder Gelegenheit geimpft. Man | |
hat dann festgestellt, dass es bei sehr häufiger Impfung zu einer | |
Anschwellung der Lymphknoten im Abflussgebiet des Impfstelle kam. Aber | |
systemische, schwere Nebenwirkungen von Mehrfachimpfungen sind bislang | |
nicht bekannt. | |
Alle derzeit verwendeten Impfstoffe haben auch seltene Nebenwirkungen wie | |
etwa bestimmte Thrombosen oder Herzmuskelentzündungen. Steigt oder sinkt | |
dieses Risiko mit der Mehrfachimpfung? | |
Das wissen wir nicht genau. Woher auch? Es gibt erst kleine Kollektive, | |
etwa Nierentransplantierte, die [2][bereits drittgeimpft] wurden und | |
wissenschaftlich untersucht werden. Da muss ich auch noch mal etwas | |
Grundsätzliches sagen: Wenn wir eine Infektionserkrankung haben, die neu | |
für den Menschen ist, wenn wir schnell viele neue Impfstoffe entwickelt | |
haben und schnell impfen, dann können wir nicht erwarten, dass wir die | |
gleiche Erkenntnislage haben wie bei Impfstoffen, die wir seit dreißig | |
Jahren verwenden. Das ist eine unglaublich triviale Tatsache, die für alle | |
Anwendungen in der Medizin gilt, aber die muss man in diesen Zeiten immer | |
mal wiederholen. Erkenntnisse brauchen Zeit, alles andere ist Spekulation. | |
Wer legt denn jetzt genau fest, wer wann eine Auffrischungsimpfung bekommen | |
sollte? | |
Im Prinzip sollte das die Stiko machen. Aber die Stiko kann es natürlich | |
nur machen, wenn sie entsprechende Daten, Erkenntnisse, Erfahrungen hat, | |
auf deren Grundlage sie eine Empfehlung aussprechen kann. Da wird sicher | |
wieder gesagt, die böse Stiko macht das nicht. Aber wie sollen wir sonst | |
vorgehen? | |
Wenn wir noch nicht wissen, wer genau gefährdet ist, und das Risiko nach | |
Ihren Ausführungen überschaubar ist, könnte man sicherheitshalber doch | |
einfach großzügig auffrischen. | |
Das ist ja das, was die Gesundheitsministerkonferenz jetzt beschlossen hat. | |
Ist das eine für Sie nachvollziehbare Herangehensweise, die einfach nur von | |
Ihrer abweicht? | |
Ich denke, das ist eine politisch mögliche Entscheidung. Es darf halt nicht | |
falsch etikettiert werden. Es muss klar gesagt werden, dass jetzt alle | |
älteren Leute zur Nachimpfung kommen sollen, weil man denkt, das schadet | |
nicht und weil man auf keinen Fall will, dass wieder Menschen im Altenheim | |
sterben. Das ist dann keine evidenzbasierte Empfehlung, das ist ja klar, | |
sondern eine politische Vorsorgemaßnahme. | |
Gilt das nicht auch für den Beschluss, alle [3][Kinder ab 12 auch ohne die | |
generelle Stiko-Empfehlung impfen] zu wollen? | |
Bei den Kindern kommen noch ein paar andere Aspekte dazu. Zum Beispiel, | |
dass in Wirklichkeit die 18- bis 59-Jährigen umfassender geimpft werden | |
müssen, um die vierte Welle abzuflachen. Im Augenblick wird diese | |
Diskussion auf die Kinderimpfungen verschoben. Das lenkt im Übrigen auch | |
von der Frage ab, ob die Maßnahmen für den Kita-und Schulbereich, die von | |
einer Vielzahl von Fachgesellschaften erarbeitet wurden, tatsächlich | |
umgesetzt werden. Da ist es natürlich einfacher zu sagen: Lasst mal alle | |
impfen. Da rücken auch die 9,1 Millionen Kinder unter 12 aus dem Fokus, die | |
gar nicht geimpft werden können – also alle Grundschulkinder, alle | |
Kitakinder. Die politische Motivation bei den Kinderimpfungen scheint mir | |
insgesamt doch eine andere zu sein als bei den Auffrischungsimpfungen. | |
Wann ist von der Stiko mit einer evidenzbasierten Empfehlung zu den | |
Nachimpfungen zu rechnen? | |
Das liegt auf jeden Fall in einer anderen zeitlichen Dimension als die | |
aktualisierte Empfehlung zu den Kinderimpfungen, die sehr bald kommen wird. | |
Sie dürfen im Übrigen nicht denken, dass wir erst eine Entscheidung fällen, | |
wenn wir „alle“ Daten haben. Im Grunde ist bei unserer Arbeit immer die | |
Frage: Mit wie viel fehlender Evidenz können wir leben? | |
5 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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