# taz.de -- Zwangsräumungen in Ostjerusalem: Gericht sucht fraglichen Ausgleich | |
> Im Viertel Sheikh Jarrah sollen palästinensische Familien in ihren | |
> Häusern bleiben dürfen. Siedler:innen sollen rechtliche Vermieter | |
> werden. | |
Bild: Palästinensische Bewohner einer Nachbarschaft in Ostjerusalem | |
JERUSALEM taz | Der Streit um die Enteignung palästinensischer Häuser im | |
[1][umkämpften Ostjerusalemer Viertel Sheikh Jarrah] geht in die nächste | |
Runde. Israels oberstes Gericht schlug am Montag eine mögliche Lösung vor, | |
um weitere Gewaltausbrüche zu verhindern: Zwar will man die | |
palästinensische Klage gegen die geplanten Zwangsräumungen nicht annehmen, | |
aber auch die Besitzansprüche von Siedler:innen auf palästinensische | |
Häuser wurden abgelehnt. | |
Was wie ein Kompromiss klingt, wurde eher wie ein Ultimatum vorgetragen. | |
Das Ziel der Richter:innen: Sich selbst davor zu drücken, in einer | |
politisch höchst brisanten Angelegenheit Stellung zu beziehen, und | |
stattdessen die Parteien unter Druck zu setzen. | |
Im Mai war das strategisch wichtige Viertel, das Ostjerusalem mit der | |
Altstadt verbindet, zum internationalen Solidaritätssymbol mit | |
Palästinenser:innen geworden. Die drohende Ausweisung zugunsten von | |
Siedler:innen sorgte weltweit für Aufmerksamkeit. Als Proteste gegen die | |
Zwangsräumungen und israelische Polizeigewalt in der Altstadt Jerusalems | |
eskalierten, kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen [2][Israel | |
und militanten Kräften im Gazastreifen]. Bei den 11-tägigen Gefechten | |
[3][fanden 260 Palästinenser:innen] und 13 Israelis den Tod. | |
Der nun vorgelegte Gerichtsbeschluss verlangt von den vier Familien – | |
insgesamt 70 Menschen – die seit den 1950er Jahren in ihren Häusern leben, | |
die israelische Siedlerorganisation Nahalat Shimon als rechtlichen | |
Vermieter anzuerkennen. Im Gegenzug sollen die Familien einen Sonderstatus | |
von „geschützten Mieter:innen“ erhalten, der sie auf unbestimmte Zeit vor | |
Zwangsräumungen bewahren würde. | |
## „Praktische Lösungen finden“ | |
Während der Anwalt von Nahalat Shimon den Vorschlag ablehnte und eine | |
Anerkennung des jüdischen Eigentumsrechts einforderte, erklärten sich die | |
palästinensischen Familien kompromissbereit, verweigerten aber die | |
Ansprüche der Siedler. Schließlich forderten die Richter:innen die | |
palästinensische Seite auf, innerhalb einer Woche eine Personenliste mit | |
den Namen derjenigen Bewohner:innen vorzulegen, die einen Anspruch auf | |
Sonderstatus hätten. Viele der Anwesenden im Gerichtssaal hatten Mühe, den | |
Argumenten auf Hebräisch zu folgen – ihr eigenes Schicksal wurde ohne | |
offizielle Übersetzung verkündet. | |
„Wir müssen uns von einer Prinzipienebene entfernen und praktische Lösungen | |
finden. Die [4][Menschen müssen hier weiterleben]“, erklärte Richter Isaac | |
Amit. Insgesamt sind allein in Sheikh Jarrah 75 Familien von einer Räumung | |
bedroht. | |
Haim Silberstein, Präsident der Siedlerorganisation Keep Jerusalem, hofft | |
auf einen endgültigen Gerichtsentscheid zugunsten der Siedler:innen. Die | |
Etablierung einer starken jüdischen Mehrheit in Vierteln wie Sheikh Jarrah | |
sei „wichtig für die Demokratie und die jüdische Heimat“. | |
Um die Asymmetrie in dem Immobilienstreit zu verstehen, muss man zur | |
Staatsgründung Israels 1948 zurückkehren: Damals kam Sheikh Jarrah zunächst | |
unter jordanische Kontrolle. Palästinensische Flüchtlinge, die das Viertel | |
besiedelten, zahlten zunächst unter jordanischer Herrschaft Miete an einen | |
„Generalverwalter“. Im Sechstagekrieg 1967, knapp 20 Jahre später, besetzte | |
Israel Ostjerusalem. Für das Gerichtsverfahren reichten die betroffenen | |
Familien Dokumente ein, aus denen hervorgeht, dass die jordanische | |
Regierung noch vor 1967 versucht hatte, ihnen das Eigentum der Häuser zu | |
übertragen – diese Dokumente sollten ihnen als Rechtsgrundlage dienen. | |
Bisher bezogen sich die Richter:innen jedoch nicht darauf. | |
Seit Jahren wollen jüdische Siedler:innen Häuser, die vor 1948 von Juden | |
bewohnt wurden, gerichtlich zurückgewinnen. Legitimiert wird dies durch ein | |
Gesetz, das Israel 1970 verabschiedet hat und Jüdinnen und Juden | |
berechtigt, Grundstücke zurückzuerhalten, die sie im Krieg von 1948 | |
verloren haben. Palästinenser:innen, von denen 1948 etwa 700.000 zu | |
Flüchtlingen wurden und die ihre Häuser verloren, bleibt ein solches Gesetz | |
verwehrt. | |
3 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Marina Klimchuk | |
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