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# taz.de -- Über die Notwendigkeit, zu grüßen: Corona-Altlasten
> Darf man Menschen, die sich mutmaßlich schlecht benommen haben, durch
> Nicht-Grüßen ignorieren? Der Ethikrat wendet sich lebenden Bildern zu.
Bild: Über den Rum verlor der Ethikrat die Frage nach der Notwendigkeit des Gr…
Kürzlich klingelte es an einem regnerischen Abend spät an der Haustür und
wie immer fürchtete ich, dass es die Nachbarinnen von unten sein würden,
die sich über Lärm beschweren wollten. Tatsächlich lag die letzte
Beschwerde ein paar Wochen zurück, die Kinder schliefen und ich saß lautlos
in der Küche, aber die Furcht ist ein hartnäckiger Begleiter. Ich sollte
den Ethikrat nach einem konstruktiven Umgang mit dem Irrationalen fragen,
dachte ich und öffnete zögerlich die Tür.
Dort stand der Ethikrat. Der Rat, das sind drei ältere Herren von geringer
Größe, die mir gelegentlich [1][Handreichungen in Sachen praktischer Ethik]
geben. Das Wasser troff aus ihren Anzügen und sie wirkten milde unfroh.
„Wir haben uns ausgesperrt“, sagte der Ratsvorsitzende. „Wäre es möglic…
dass wir kurzfristig bei Ihnen unterkommen?“ „Natürlich“, sagte ich,
„brauchen Sie etwas Trockenes zum Anziehen?“, und bereute die Frage
umgehend, denn ich hatte nichts in der Größe des Rats anzubieten. „Wenn Sie
drei Bettlaken für uns hätten, wäre das hilfreich“, sagte der Vorsitzende.
Der Rat hüllte sich in die Laken, während ich im Flur wartete. „Vielleicht
täte uns ein Schluck Rum gut“, sagte eines der Mitglieder, das in der Regel
schwieg, und ich dachte bedauernd, dass der Rat zunehmend von der strengen
Förmlichkeit der Anfangszeit abrückte. „Vielleicht könnte ich Ihnen
nebenbei auch eine Frage vorlegen“, sagte ich und stellte die Flasche auf
den Tisch.
„Ich kämpfe immer noch mit den Corona-Altlasten“, begann ich, „genauer in
der Kita, wo ich ein paar Eltern zu Coronazeiten so wenig solidarisch fand,
dass ich einfach keine Lust habe, sie zu grüßen. Und ich habe gerade nicht
die Kraft herauszufinden, ob alles nur ein übles Missverständnis war und
sie gar nicht um jeden Preis ihre Einzelinteressen durchgeboxt haben.“
Der Vorsitzende betrachtete prüfend den Rum, in den ich viel Geld
investiert hatte, um die häusliche Stimmung aufzubessern. Natürlich war ihm
meine Frage zu banal, natürlich konnte man sagen, dass auch die Kitakinder
Probleme aus der Welt zu schaffen versuchten, indem sie die Augen
zukniffen. Aber gehört es nicht zum philosophischen Erkenntnisweg, die
Schlichtheit der eigenen Fragestellungen demütig hinzunehmen?
## Vom Recht, eine Beziehung außer Kraft zu setzen
Die schweigenden Ratsmitglieder hatten in einer Küchenschublade die
Gummispinnen entdeckt, die vom Kindergeburtstag übrig geblieben waren, und
prüften, wie lange sie an der Decke kleben blieben. „Was ich meine: Der
Gruß ist die symbolische Anerkennung, dass der andere und ich eine soziale
Beziehung haben“, sagte ich hastig. „Aber wenn ich eben diese Beziehung zu
einem bestimmten Zeitpunkt unklar finde, ist es nicht mein Recht, sie
zwischenzeitlich außer Kraft zu setzen?“
„Augenscheinlich sind Sie selbst mit Ihrem Vorgehen nicht ganz
einverstanden“, bemerkte der Vorsitzende und nahm einen weiteren Rum. „Na
ja“, sagte ich, „es hat etwas, sagen wir, Hilfloses an sich. Aber
vielleicht ist es nur das Ungewohnte, soziale Konventionen zu verlassen.“
Bei den Konventionen fiel mir noch ein, was mir kürzlich ein Historiker
erzählt hatte: „Ein burgundischer Herzog ließ einen Henker, der ihm beim
Einzug in Paris die Hand gereicht hatte, hinrichten, weil dieser Gruß eine
Anmaßung war.“ „Und was schlussfolgern Sie daraus in Hinblick auf die Ihnen
unliebsamen Eltern?“, fragte der Vorsitzende.
„Darüber müsste ich kurz nachdenken“, sagte ich lahm, aber der
Ratsvorsitzende war ohnehin aufgestanden. „In der Zwischenzeit werden wir
Filmszenen nachstellen“, sagte er und mir schien, dass er sachte schwankte,
„eine moderne Variation der lebenden Bilder. Ich möchte beginnen.“
Er warf sich das Ende des Bettlakens über den Kopf, nahm einen Besen und
begann einen russisch anmutenden Tanz, der in einem Sprung endete. Die
Ratsmitglieder, die in der Regel schwiegen, begannen, im Takt dazu zu
klatschen. Aber noch bevor ich dem Ganzen Einhalt gebieten konnte,
klingelte es schrill an der Tür.
1 Aug 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Kolumne Ethikrat
Schwerpunkt Coronavirus
Höflichkeit
Zusammenleben
Sozialer Zusammenhalt
Kolumne Ethikrat
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