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# taz.de -- Zeitzeug*innen-Projekt „The Reminder“: „Wir haben Rotz und Wa…
> Die Hamburger Soul-Sängerin Miu startet ein Zeitzeug*innen-Projekt gegen
> das Vergessen. Dieser Tage erschien der Song „The Reminder“.
Bild: Gegen schiefe historische Vergleiche (nicht nur) auf Coronademos: Miu
Hamburg taz | Ob „Jana aus Kassel“, die sich mit der Widerstandskämpferin
Sophie Scholl vergleicht. Oder jene weniger prominenten Protestierenden,
die Plakate hochhalten, auf denen sie Angela Merkel mit Adolf Hitler
gleichsetzen – weil sie Masken tragen oder sich an Kontaktbeschränkungen
halten sollen. Wenn Miu Bilder sieht von solchen Menschen, die ihr Leben in
der Coronapandemie mit dem unter einer Diktatur vergleichen, dann macht sie
das nachdenklich.
Etliche solcher Erlebnisse der vergangenen Monate hat die Hamburger
Soul-Sängerin, die eigentlich Nina Graf heißt, in einem neuen Song
verarbeitet: „The Reminder“. Was da, den Titel stiftend, an etwas erinnert:
Man darf es als eine Art fiktiven Erzähler verstehen, der unablässig den
Finger in eine Wunde legt. „Nicht weil er das möchte, sondern weil er
unbedingt muss“, sagt die 34-Jährige.
Mit dem Projekt möchte Miu Menschen Respekt zollen, die in Diktaturen
tatsächlich schlimmste Gräueltaten erlebt haben. Und sie will verhindern,
dass schiefe, ahistorische Vergleiche salonfähig werden, insbesondere
solche mit dem Nationalsozialismus.
Für das Video zum Song wollte sie mit Menschen zusammenarbeiten, die dazu
inhaltlich etwas beizutragen haben. Und das, räumt sie ein, auch entgegen
anfänglicher Berührungsängste: „Ich hatte durchaus Respekt davor, mich auf
die Suche nach Zeitzeug*innen zu machen und Leute anzuschreiben, ob sie
sich das vorstellen könnten.“ Dann wurde sie auf die „[1][Zeitzeugenbörse…
des Seniorenbüros Hamburg] aufmerksam. Und mit ein bisschen
Überredungskunst konnte sie acht solcher Zeug*innen für ihr Projekt
gewinnen.
Diese Menschen wollen, dass ihre Geschichten gehört werden, das merkte die
Sängerin schnell – alle anfänglichen Ängste stellten sich als unbegründet
heraus. Teilweise brachten die Gesprächspartner*innen Dokumente oder
gar Koffer voller Erinnerungsstücke mit zum Dreh. Sie haben die NS-Zeit
miterlebt, oder auch 40 Jahre DDR-Diktatur. Im Rahmen der „Zeitzeugenbörse“
tauschen sie sich nicht nur untereinander aus, sondern gehen auch an die
Öffentlichkeit, treten in den Medien auf oder stellen sich Fragerunden,
etwa in Schulen.
„Ein Mann war Musiker in der DDR“, schildert Miu. „Er wurde dort wegen
seiner regimekritischen Texte inhaftiert.“ Ein Schicksal, das der Sängerin
nahe ging. Doch diese Menschen beim Videodreh noch einmal persönlich zu
treffen und ihre Geschichten von ihnen persönlich zu hören, das sei dann
noch einmal eine ganz andere Ebene gewesen. „Wir haben alle Rotz und Wasser
geheult!“ Am Ende so eines hoch emotionalen Drehtages habe sie aber auch
das Gefühl gehabt, etwas Wichtiges getan zu haben.
Im Video zu der Ballade sitzen die Zeitzeug*innen vor einer weißen Wand
und faden nach und nach aus – so wie ihre Geschichten zu verschwinden
drohen. Die haben es in sich: Manfred Hüllen etwa, heute 82, hat als
kleiner Junge noch die letzten Kriegstage erlebt. Seine Geschichte kann er
nicht erzählen, ohne dass ihm die Stimme immer wieder versagt und die
Tränen in die Augen steigen: Sein Vater war als Sozialdemokrat in ein
Konzentrationslager verschleppt worden, kam erst Jahre nach dem Krieg
wieder nach Hause. Seine Schwester starb während eines Fliegerangriffs, bei
dem die ganze Familie nach einem unglücklichen Manöver unter einen LKW kam.
„Kein Mensch kann verstehen, was das bedeutet, dass über 70 Millionen
Menschen gestorben sind“, sagt Hüllen. Aber wenn er von seiner Schwester
erzähle, an die er noch jeden Tag denke, dann falle bei vielen
Schüler*innen der Groschen. „Sie ist tot! Tot! Das ist, was der Krieg
bedeutet.“
Ebenso musste er mitansehen, wie seine Mutter fünf Stunden lang von
sowjetischen Soldaten vergewaltigt wurde. Was damals genau vor sich ging,
habe er erst viel später verstanden: „Ich dachte, die wollen sie
umbringen!“ Seine Mutter selbst habe das Thema nur ein einziges Mal
angesprochen, und das auch erst kurz vor ihrem Tod: „Damit habe ich uns das
Leben gerettet“, soll sie zu ihrem Sohn gesagt haben.
Gegen rechtspopulistische Tendenzen in der Gesellschaft vorzugehen, das
bezeichnet der Hollenstedter als Herzensanliegen. In den vergangenen
Monaten hat er unter anderem mit „Ein-Mann-Demos“ gegen rechts für Aufsehen
gesorgt und erhält für sein Engagement eine Auszeichnung vom [2][Bündnis
für Demokratie und Toleranz]. Selbst durch Bedrohungen von
Rechtsextremisten lasse er sich von seiner Mission nicht abhalten, sagt
Hüllen.
Für ihn war es daher Ehrensache, bei Mius Projekt mitzumachen: „Das ist ein
Lied mit einem Text gegen das Vergessen. Ich war begeistert, und ich bin
mit innerer Überzeugung und Empathie dabei.“ Das Ergebnis hält er sogar für
so gelungen, dass er es zukünftig als Auftakt in den Schulen zeigen will,
die er regelmäßig als Zeitzeuge besucht.
Für Miu hat die Zusammenarbeit mit den Zeitzeug*innen das gesamte
Projekt auf eine ganz neue Ebene gehoben. Nicht nur weil jede*r eine
eigene Geschichte mitgebracht habe. Sondern auch weil die Begegnungen lange
nachwirken und das gesamte Team nachhaltig geprägt haben.
Weil solche Begegnungen in Zukunft nicht mehr möglich sein werden, ist das
Projekt von Miu so spannend. Und weil sie einen zwar niedrigschwelligen
Zugang gefunden hat, den beteiligten Menschen und ihren Geschichten aber
dennoch gerecht wird.
Die 34-Jährige nennt „The Reminder“ ein absolutes Herzensprojekt: Von der
eigentlichen Produktion bis zur Promotion finanziert die
Wahl-Norderstedterin alles aus eigener Tasche. Gewinn möchte sie damit
nicht machen, mögliche Erlöse will sie spenden.
Und sie hofft, dass sie Nachahmer*innen findet: „Ich glaube, wir
müssen immer deutlicher Kante zeigen und auch Grenzen aufzeigen und sagen,
was nicht in Ordnung ist. Und das versuchen wir eigentlich auch mit dem
Song und mit dem Projekt.“ Dieses Vorhaben ist ihr gelungen – mit Bravour.
14 Jul 2021
## LINKS
[1] https://www.seniorenbuero-hamburg.de/zeitzeugenboerse-hamburg/
[2] https://www.buendnis-toleranz.de/
## AUTOREN
Anina Pommerenke
## TAGS
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