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# taz.de -- Konfliktforscher über Proteste im ÖPNV: „Wir brauchen dosierte …
> Politische Bewegungen nutzen Busse und Bahnen noch zu wenig für ihren
> Protest. Davon ist der Marburger Konfliktforscher Johannes Becker
> überzeugt.
Bild: Die US-Amerikanerin Rosa Parks löste mit ihrem Protest im Bus die schwar…
taz: Herr Becker, 1955 weigerte sich [1][Rosa Parks] als schwarze Frau,
ihren Sitzplatz im Bus einem weißen Fahrgast zu überlassen und löste damit
die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA aus. Das ist eines der
bekanntesten Ereignisse, bei dem öffentliche Verkehrsmittel als Orte und
Objekte für soziale Kämpfe genutzt wurden. Haben Sie selbst auch Erfahrung
mit Protesten in Bussen oder Bahnen gemacht?
Johannes M. Becker: Ja, 1991 fuhr ich mit meinen (Ost-)Berliner
Studierenden im Zug nach Paris. Als wir durch Lothringen kamen, wurden wir
angehalten. Durch den Zug liefen Bergarbeiter in ihrer Kluft. Sie erklärten
uns, dass ihre Zeche geschlossen werden sollte. Was war das Besondere an
dieser Zugbesetzung? Wir konnten nicht raus und die Bergarbeiter haben ihre
Macht eindrücklich genutzt, um ihre Informationen direkt an uns
loszubringen.
Heutzutage ist die Klimabewegung der präsenteste Protest. Anders als Rosa
Parks steht sie keinem Gegner direkt, persönlich, gegenüber. Kann sie die
öffentlichen Verkehrsmittel für ihre Zwecke nutzen?
In Frankreich zum Beispiel hat die [2][Gelbwesten-Bewegung 2019]
angefangen, Kreisverkehre zu blockieren, um gegen die kräftige
Spritpreis-Erhöhung bei einem gleichzeitig in der Fläche weitgehend
geschlagenen ÖPNV zu protestieren. Aber als einer der Sprecher der
Bürgerinnen-Initiative Verkehrswende hier in Marburg finde ich, wir nutzen
Busse und Bahnen noch zu wenig. Ich glaube, dass da ungeheuerliche Chancen
sind.
Werden Bus und Bahn heute in Deutschland für soziale Kämpfe genutzt?
Mir fallen zwei sehr verschiedene Beispiele ein. Erstens: Die Bundeswehr
hatte neulich die Werbeflächen in Marburg in Bussen und
Haltestellenhäuschen gekauft, um junge Menschen anzuwerben. Ich habe dafür
plädiert, dass wir als Friedensbewegung selbst diese Flächen ankaufen und
dann polemisch-sachlich argumentieren, dass, wer dafür wirbt, dass junge
Menschen diese Armee als „normalen“ Arbeitgeber sehen, nicht die ganze
Realität darstellt. Das zweite sind die Tarifkämpfe im öffentlichen
Verkehr: In diesen Wochen drohen die Lokführer:innen hierzulande mit
Streiks, wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht ändern. Und die
Lokführergewerkschaft nutzt ihren Zugang zum Führerstand, also ihre Macht
darüber, ob die Züge fahren oder nicht, als Schlüsselinstrument.
Ist [3][ziviler Ungehorsam] bei solchen Protesten legitim?
Auf jeden Fall, wenn der Staat sich uneinsichtig zeigt, was die Interessen
der Masse der Bevölkerung anbelangt. Ich habe kein Verständnis dafür, dass
man anderen Leuten die Autoscheiben einschlägt, geschweige denn, sie
physisch angreift. Aber Straßenblockaden – verglichen mit den
Schweinereien, die die Autos bei uns in den Städten anrichten, was Abgase
und was Lärm anbelangt, sind das doch vernachlässigbare Faktoren.
Was halten Sie von ostentativem Bahnfahren ohne Fahrschein?
Das finde ich auch gut. Und ich bin ein unbedingter Verfechter des
kostenfreien ÖPNV. ÖPNV ist meiner Ansicht nach ein Grundrecht, denken Sie
an die 20 Prozent der Menschen, die unter oder an der Armutsgrenze leben.
ÖPNV muss billig und berechenbar sein, wie für die Einwohner in der Schweiz
zum Beispiel. Da fährt bis ins kleinste Tal hinein der Postbus auf die
Sekunde. Bei uns fahren manche Eltern die Kinder mit dem Auto in die
Schule, weil die sonst um halb sieben an der Bushaltestelle stehen müssten,
um um acht Uhr im Unterricht zu sein.
Ist Fahren ohne gültiges Ticket dagegen effektiv?
Schwarzfahren ist effektiv, weil es auf das Problem hinweist, dass sich
einige Leute den Verkehr einfach nicht leisten können. Ich bewundere
Menschen, die das tun. Wer ein paar Mal erwischt worden ist, wird
vorbestraft. Da muss man schon ein starkes Rückgrat haben. Alles, was auf
die großen Missstände in diesem reichen Land hinweist, unterstütze ich.
Wie kommt es zu solchen Missständen, die ja schon lange bekannt sind?
Die letzten Vorstandsleute der Deutschen Bahn kamen aus Luftfahrt- und
Autoindustrie. Da wird Klassenkampf von oben betrieben. Marx sagt: ‚Das
Sein bestimmt das Bewusstsein.‘ Wenn der Bahnvorstand nie mit einem Zug
morgens nach Frankfurt in die Zentrale fährt, sieht er auch nicht, wie
dieser um acht Uhr aussieht. Es müssen Leute in den Vorstand, die aus den
Gewerkschaften kommen, die von der Pike auf dieses Handwerk gelernt haben
und die wissen, wie der Alltag in einem Zug oder in einem Bus ist.
Wo bleibt der Aufruhr vor allem von den benachteiligten Menschen?
Das ist eine der Schlüsselfragen. Weil unser System ihnen eingebläut hat,
dass jeder und jede individuell für ihre Lage verantwortlich ist. Sie
fragen nicht: Stimmt vielleicht etwas an dem großen System nicht? Auch bei
unserer Bürgerinitiative sind wir ausnahmslos Intellektuelle.
Brauchen soziale Bewegungen mehr Aggressivität?
Ja, wir brauchen dosierte Aggressivität. Ziviler Ungehorsam führt immer zu
ungeheuerlich viel Aufmerksamkeit. Ohne Aufmerksamkeit kommen Sie nicht an
die Hirne der Menschen heran und dann kommen Sie auch nicht an die Herzen
der Menschen heran.
10 Jul 2021
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## AUTOREN
Ruth Fuentes
## TAGS
ÖPNV
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Schwerpunkt Coronavirus
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