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# taz.de -- Verstoß gegen Antidiskriminierungsgesetz: Weiterschubsen statt fö…
> Berliner Schüler:innen dürfen das Schuljahr freiwillig wiederholen.
> Doch Kinder mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ sind
> ausgenommen.
Bild: Kein Pandemievorteil: Manche Schüler:innen dürfen nicht freiwillig wied…
Berlin taz | Das Berliner Schulgesetz benachteiligt geistig behinderte
Schüler:innen beim freiwilligen Wiederholen und verstößt damit gegen das
[1][Antidiskriminierungsgesetz des Landes]. Zu diesem Schluss kommt die
unabhängige Ombudsstelle, die über die Einhaltung des Gesetzes wacht, in
einer aktuellen Stellungnahme. Sie liegt der taz exklusiv vor. Darin heißt
es: „Die freiwillige Wiederholung einer Jahrgangsstufe ist für viele
Schüler:innen mit einer Behinderung ausgeschlossen.“ Dies stelle eine
Ungleichbehandlung gegenüber allen Schüler:innen dar, die keine Schule
mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ besuchen. „Die
Benachteiligung liegt insbesondere darin, dass die Schüler:innen mit
Behinderungen aufgrund der pandemiebedingten Situation an den Schulen
etwaige Lernrückstände nicht nachholen können/dürfen.“
Das Abgeordnetenhaus hatte im Februar beschlossen, dass Schüler:innen
von Klasse eins bis zehn in diesem Schuljahr freiwillig sitzenbleiben
dürfen, um den [2][besonderen Umständen in diesem Schuljahr] Rechnung zu
tragen und ihnen Gelegenheit zu geben, pandemiebedingte Nachteile
auszugleichen. In der Verordnung vom März hatte die Senatsverwaltung für
Bildung jedoch Kinder an Schulen mit dem Förderschwerpunkt „Geistige
Entwicklung“ ausdrücklich ausgenommen. Für sie ist keine Wiederholung der
Jahrgangsstufe möglich, „weil die Schule nicht in Jahrgangsstufen
organisiert ist“, so die Begründung. Förderschulen für Kinder mit geistigen
Einschränkungen sind in fünf Stufen organisiert. Die Schüler:innen
rücken laut Sonderpädagogikverordnung nach dem Lebensalter vor, „da die
Ausprägung ihrer Beeinträchtigungen und Behinderungen keine sinnvolle
Normorientierung zulassen“.
Die Beauftragte für Menschen mit Behinderung, Christine Braunert-Rümenapf,
hält die Begründung des Senats für „absurd“. Der taz sagte sie: „Gerade
Schüler:innen mit Behinderung, die aufgrund des Pandemiegeschehens
zusätzlich einem Nachteil ausgesetzt sind, sollen von der freiwilligen
Wiederholungsmöglichkeit ausgeschlossen werden. Und zwar nur aufgrund der
Organisation der Schulform. Diese Regelung muss verändert werden.“ Menschen
mit Behinderung seien doch besonders auf Unterstützungsangebote angewiesen,
so die Beauftragte.
Wie die Bildungsverwaltung im Juni in einer Antwort auf eine Anfrage der
FDP mitteilt, lernen derzeit 2.638 Schüler:innen in Schulen oder Klassen
mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt „Geistige Entwicklung“. Auch im
Einzelfall, beispielsweise auf Vorschlag der Klassenlehrer, sei eine
Wiederholung für sie ausgeschlossen, heißt in der Antwort, die der taz
ebenfalls vorliegt. Für den behindertenpolitischen Sprecher der
FDP-Fraktion, Thomas Seerig, ist das sachlich nicht begründbar. „Der Senat
redet gern von der individuellen Förderung der Kinder. Die Praxis sieht
anders aus. Die Wiederholung der Klasse wird im Falle von Förderbedarf
‚Geistige Entwicklung‘ kategorisch ausgeschlossen.“ Das sei Schema F statt
Vertrauen in die Fachleute, so Seerig. Auch er sieht einen klaren Verstoß
gegen das Landesdiskriminierungsgesetz.
## Aufrücken in gewöhnlichen Zeiten
Weitere 1.662 Schüler:innen mit dem Förderschwerpunkt „Geistige
Entwicklung“ lernen in Regelklassen. Sie dürfen – anders als ihre
Mitschüler:innen an den Sonderschulen – in diesem Jahr freiwillig
wiederholen. Doch auch hier gibt es Ausnahmen.
Das Angebot, freiwillig zu wiederholen, gilt für Grundschüler:innen
erst ab dem Ende der Schulanfangsphase. Das heißt, ab der zweiten oder an
einigen Schulen ab der dritten Klasse. Kinder, denen Förderbedarf „Geistige
Entwicklung“ attestiert wurde und die noch nicht das Ende der
Schulanfangsphase erreicht haben, könnten das Nachsehen haben. Denn während
„normal“ entwickelte Kinder auf Antrag auch ein Jahr länger in der
Schulanfangsphase verweilen dürfen, müssen Kinder mit dem Förderstatus
„Geistige Entwicklung“ laut Sonderpädagogikverordnung in gewöhnlichen
Zeiten ihrem Alter gemäß weiter aufrücken.
Als „geistig behindert“ gilt auch Benni. Der Zweitklässler besucht eine
[3][inklusive Schule] in Kreuzberg. Die Schulanfangsphase umfasst hier die
Klassen eins bis drei. In seiner jahrgangsgemischten Klasse fällt kaum auf,
dass er erst mit acht Jahren lesen lernt. Er sei ein gut gelaunter Junge,
der von seinen Mitschülern geschätzt werde, heißt es auf seinem Zeugnis.
Die Eltern beantragten den Behindertenausweis für Benni auf Anraten der
Schule kurz nach der Einschulung. So erhalte die Schule zusätzliche Stellen
und Benni könne besser gefördert werden, hieß es damals.
## Lieber noch ein Extrajahr
Dann kam die Coronapandemie: [4][Klassen wurden geteilt, Unterricht fiel
aus und Förderangebote fielen weg]. Auch Bennis Eltern wollten, dass ihr
Sohn die zweite Klasse wiederholt. Seine Lehrer:innen unterstützten sie
dabei, denn „durch den pandemiebedingten Unterrichtsausfall konnte eine
umfängliche Förderung, so wie es der Regelunterricht bietet, nicht
stattfinden“. So steht es im Protokoll des Beratungsgesprächs. Doch die
Senatsverwaltung für Bildung lehnte den Antrag mit dem Verweis darauf ab,
dass sich der Junge noch nicht am Ende der Schulanfangsphase befindet. Und
die Schule teilte den Eltern bereits mit, dass Benni im nächsten Jahr nicht
verweilen dürfe, sondern weiter aufrücken müsse. Ohne die Gelegenheit, noch
ein Extrajahr in der Schulanfangsphase zu bleiben wie seine nicht
behinderten Mitschüler:innen.
Auf Anfrage der taz teilte die Senatsverwaltung mit, dass die
Ungleichbehandlung nicht diskriminierend, sondern sachlich durch die
Organisationsform begründet sei: „Schülerinnen und Schüler, die keiner
Jahrgangsstufe zugeordnet sind (dies betrifft die Schulen mit dem
sonderpäd. Förderschwerpunkt GE), können auch keine Jahrgangsstufe
wiederholen.“
Dass Benni im Laufe des kommenden Schuljahres das durch die Pandemie
Versäumte aufholt, bezweifeln seine Eltern. Auch in solchen Fällen könnte
eine mittelbare Diskriminierung vorliegen, meint die Behindertenbeauftragte
Braunert-Rümenapf. Sie will sich noch in dieser Woche an Bildungssenatorin
Sandra Scheeres, SPD, wenden.
4 Jul 2021
## LINKS
[1] /Ein-Jahr-LADG/!5777575
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[3] /Sozialpaedagogen-ueber-Inklusion/!5749960
[4] /Generation-Corona/!5774681
## AUTOREN
Anna Lehmann
## TAGS
Sandra Scheeres
Schwerpunkt Coronavirus
LADG
Schule
Förderung
Förderschule
Sandra Scheeres
Schwerpunkt Rassismus
Inklusion
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