| # taz.de -- Autorin über Sprache und Identität: „Den Zeugen war nicht zu tr… | |
| > Die Autorin Claudia Durastanti spricht über ihren Roman „Die Fremde“ – | |
| > und was es bedeutet, mit verschiedenen Identitäten zurechtkommen zu | |
| > müssen. | |
| Bild: Die Schriftstellerin und Übersetzerin Claudia Durastanti | |
| Claudia Durastanti erzählt in „Die Fremde“ ihre italo-amerikanische | |
| Familiengeschichte, vom Aufwachsen in Brooklyn, der Rückkehr als kleines | |
| Mädchen in die Basilicata und dem London der Gegenwart. Als Tochter | |
| gehörloser Eltern bringt sie sich selbst die Sprache(n) bei, die ihr die | |
| Eltern nicht geben können. Der dieses Jahr in deutscher Übersetzung | |
| erschienene Roman [1][wurde vielfach ausgezeichnet und von der Kritik | |
| gefeiert.] | |
| taz: Frau Durastanti, „Die Fremde“ beginnt mit einem Zitat der | |
| amerikanischen Dichterin Emily Dickinson, „after great pain, a formal | |
| feeling comes“. Warum haben Sie gerade dieses Zitat ausgewählt? | |
| Claudia Durastanti: Ich bin zufällig darauf gestoßen, das Zitat hat das | |
| Buch gewissermaßen „geboren“. Ich hatte keine genaue Vorstellung, außer | |
| dass ich eine Art persönliches Essay über die Sprache meiner Familie | |
| schreiben wollte, und ich war mir über den Titel „Die Fremde“ im Klaren, | |
| inspiriert von dem Rapport zwischen Behinderung, Identität und Differenz. | |
| „Behinderte“, schreiben Sie in Ihrem Roman, „jedes Wort zu ihrer | |
| Bezeichnung ist ungenügend.“ Welchen Wandel wünschten Sie sich in | |
| Betrachtung des inklusiven wie exklusiven Potenzials von Sprache? | |
| Für mich war der Weg vom Begriff gehandicapt über behindert zu gehörlos | |
| dahin, von Menschen mit einer Behinderung zu sprechen, nicht immer linear, | |
| eben weil die Wörter, die wir verwenden, die Wörter sind, die uns in der | |
| Schule und in der Gesellschaft beigebracht werden. Ich denke und hoffe, | |
| dass die neuen Generationen darin viel fließender sein werden, indem sie | |
| Unterschiede und Gemeinsamkeiten immer auf den Begriff „Person“ | |
| zurückführen. | |
| Ihre Mutter spricht die Gebärdensprache mit anderen Gehörlosen, nicht | |
| jedoch mit Hörenden. Ihr Vater verweigert sie gänzlich. Beide rebellieren | |
| gegen die Rolle, die die Gesellschaft ihnen zuschreibt. Sie schreiben, Sie | |
| könnten Ihre Eltern gut verstehen, wenn diese lieber als „Fremde“ | |
| wahrgenommen werden wollten denn als „Behinderte“. Warum gelingt selbst in | |
| auf Pluralismus und Heterogenität ausgelegten Gesellschaften kein | |
| unbeschwerter Umgang mit Behinderungen und Alterungsprozessen? | |
| Weil es in Ländern mit einer stark katholischen Kultur wie Italien immer | |
| die Idee gab, das Leben dieser „unglücklichen“ Menschen am Rande der Hilfe | |
| und des Mitgefühls abzulehnen, was Menschen mit Behinderungen oft eine | |
| politische Stimme und eine authentische Erfahrung der Emanzipation | |
| vorenthält. | |
| Da meine Eltern Gehörlosigkeit nur als eine strafende und stigmatisierende | |
| Dimension sahen, hatten sie kulturell nicht wirklich die Möglichkeit, sich | |
| vorzustellen, dass sie auch innerhalb der Gehörlosigkeit und durch [2][das | |
| Sprechen der Gebärdensprache] frei und unabhängig sein könnten. Darin sind | |
| sie Sinnbild für ihre Generation und die rückwärtsgewandten Diskurse über | |
| die Idee der Normalität. | |
| Kunst, schreiben Sie, könne ein Individuum von seiner Andersheit und die | |
| Andersheit von der Einsamkeit befreien. Welche Werke prägten dieses Gefühl? | |
| Oft kommt diese Möglichkeit in avantgardistischen Werken zum Ausdruck. Es | |
| sind Werke, in denen Raum für Schräglauf geschaffen wird. Ich erkläre in | |
| dem Buch, dass die experimentelle Musik von Lucier oder Cage inklusiver | |
| sein kann als melodischer Pop, weil sie auch das Unzugängliche in sich | |
| beherbergt, die Fähigkeit, nicht zu hören, Klänge misszuverstehen. Das gilt | |
| bis zu einem gewissen Grad auch für die Literatur. Faulkner versuchte trotz | |
| aller historischen Einschränkungen der Behinderung, wie er sie sich | |
| vorstellte, durch eine experimentelle Sprache eine Stimme und eine Form zu | |
| geben. | |
| Ihre Familiengeschichte hat mich daran erinnert, dass bereits die ersten | |
| Epen Migrationsgeschichten sind. Auch Teile Ihrer Verwandtschaft, seit | |
| Jahrzehnten von Migrationswellen durchdrungen, zählten zur | |
| Trump-Wählerschaft. Wie erklären Sie sich dieses Paradox und die | |
| wiedererstarkenden populistischen und nationalistischen Tendenzen in vielen | |
| Teilen der Welt? | |
| Ich glaube, dass viele Antworten in der Polarisierung zwischen Identität | |
| und Gemeinschaft gefunden werden können. Wenn der Migrant in einem neuen | |
| Land ankommt, hat er die Vorstellung, sich selbst definieren zu müssen, | |
| eine Rolle zu finden, sich in die Gesellschaft zu integrieren, indem er | |
| eine neue Version seiner selbst annimmt. | |
| Es gab, ich habe es in meiner Familie erlebt, eine sehr weit verbreitete | |
| Vorstellung, dass man es nur schaffen kann, wenn man eine sehr starke | |
| Identität wiedererlangt und die der Gemeinschaft, zu der man gehört, | |
| verteidigt. Und das bedeutete, dass wir die anderen Gemeinschaften, die | |
| anderen Migranten, die anderen Menschen, die in dasselbe Epos verwickelt | |
| waren, aus den Augen verloren. | |
| Die Idee dieser Identität als einer Form der Selbstverteidigung und des | |
| Erfolgs ist immer noch weit verbreitet, und vielleicht wird es nicht einmal | |
| die Erfahrung der Pandemie schaffen, die Idee durchzusetzen, dass sie nicht | |
| funktioniert. Dass selbst beim Auswandern, bei der Suche nach einer neuen | |
| Zugehörigkeit, nie das überforderte Ich der Schlüssel ist, und auch nicht | |
| die kleine Gemeinschaft um einen herum, sondern die größere und | |
| chaotischere, die einen umgibt. | |
| Können Sie uns am Entstehungsprozess Ihres autofiktionalen Romans teilhaben | |
| lassen? Haben Sie Gespräche mit Ihren Eltern und Verwandten geführt, | |
| Anekdoten verschriftlicht, das Archiv Ihrer Erinnerungen durchgegraben, | |
| Tagebücher durchforstet, Ihrer Fantasie freien Lauf gelassen? | |
| Ich habe viel mit meiner Mutter gesprochen, ich habe ihre Brüder | |
| interviewt, ich habe meinem Vater ein paar Fragen gestellt, aber vor allem | |
| habe ich viel mit den überlieferten Quellen gearbeitet: mit all den | |
| Bildern, Worten und Gesprächen, die in meiner Erinnerung über die Zeit | |
| erhalten geblieben sind. | |
| Also benutzte ich diese sehr schmutzigen und verunreinigten Quellen in | |
| dieser Art von Familienforschung: Ich konnte nicht nur den Zeugen nicht | |
| trauen – jeder in meiner Familie stellt sich als unzuverlässiger Romancier | |
| dar –, sondern nicht einmal meinen eigenen Erinnerungen, denn selbst ich | |
| änderte meine Meinung. Über Trauma, über Schmerz, über das Gefühl der | |
| Migration, über das Gefühl der Zugehörigkeit und darüber, wer meine Mutter | |
| für mich von Zeit zu Zeit war. In einem solch dynamischen Prozess zählte | |
| der Ton, die Sprache mehr als die Wahrheit und die Geschichte. | |
| Ihr Roman gliedert sich in verschiedene Kapitel: Familie, Reisen mit den | |
| Stationen Amerika, Italien, England, Gesundheit, Arbeit & Geld und | |
| schließlich die Liebe. Welche Stellen stellten Sie vor die größten | |
| Herausforderungen? | |
| Die letzten beiden Kapitel, die, die mehr viszeral und mehr wie eine Art | |
| persönliches Tagebuch sind. Denn zum Thema Geld und Liebe befand ich mich | |
| während des Schreibens noch in einer Art Übergangsphase: Ich verstand nicht | |
| ganz, wie ich die Schwelle des Hauses meiner Mutter überqueren sollte, | |
| untergeordnet und immer verschuldet, was würde aus mir werden? Würde ich | |
| innerlich immer arm bleiben, auch wenn meine Kaufkraft steigt? | |
| [3][Annie Ernauxs „Der Platz“] hat mich sehr zum Nachdenken gebracht, da | |
| sie sich vom subalternen Leben ihrer Eltern emanzipiert hat und über Klasse | |
| nachdenkt. Dasselbe bei der Liebe: Wie nennt man eine Beziehung, die sich | |
| über die Zeit erstreckt, die zwei Jugendliche von allem isoliert, in einem | |
| historischen Moment, in dem ich eine Art sentimentale „ethnische“ | |
| Minderheit repräsentierte? Ich wusste nicht, welchen Namen ich solchen | |
| intimen Erfahrungen geben sollte. Aber die Zerbrechlichkeit dieses Teils | |
| des Buches ist kostbar für mich. | |
| [4][Die Autorin und literarische Übersetzerin Anne Weber], die seit vielen | |
| Jahren in Frankreich lebt, verfasste ihre ersten Bücher zunächst auf | |
| Französisch, bevor sie sie eigenständig ins Deutsche brachte. Heute | |
| arbeitet sie umgekehrt. Wie sieht Ihr Schreibprozess aus? Werden Sie „Die | |
| Fremde“ ins Englische übersetzen? | |
| Im Moment schreibe ich in meinem Kopf immer öfter in zwei Sprachen, aber | |
| ich übersetze mich ins Italienische, weil es die Sprache ist, in der ich | |
| immer noch am liebsten schreibe, zumindest Romane. Bei Non-Fiction | |
| bevorzuge ich Englisch, da fühle ich mich schärfer und klarer. Ich würde | |
| meine Bücher derzeit niemals übersetzen, die Versuchung, sie umzuschreiben | |
| und zu verändern, wäre endlos und würde Jahrzehnte dauern! | |
| „Die Fremde“ wurde von Elizabeth Harris ins Englische übersetzt, ich stand | |
| ihr sehr nahe, aber es war mir wichtig, diese Geschichte der Stimme und der | |
| Interpretationskraft eines anderen anzuvertrauen. „Die Fremde“ ist in | |
| gewisser Weise auch ein Buch über Übersetzung, und ich mochte es, diese | |
| Idee zu verstärken, dass das Leben anderer Leute mein eigenes ergänzt. | |
| 19 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marielle Kreienborg | |
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