# taz.de -- Gescheiterter Putsch in Türkei: Über den Zenit | |
> 2016 scheiterten Teile des türkischen Militärs mit einem Putschversuch | |
> gegen die Regierung Erdoğan. Mittlerweile regt sich neue Hoffnung. | |
Bild: Der türkische Präsident zeigt sich gerne staatstragend und mächtig | |
Istanbul taz | Es ist traurig, was sich hier bei uns abspielt. Niemand | |
unserer europäischen Freunde kommt mehr.“ Der Hafenmeister einer Stadt an | |
der türkischen Ägäisküste schüttelt den Kopf und zeigt auf die Flaggen an | |
den Segelbooten. „Höchstens noch ein paar Ukrainer sind in diesem Sommer | |
hier.“ Mustafa K., seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung | |
lesen, redet sich richtig in Rage. | |
„Das ist ja nicht erst seit diesem Sommer so, auch schon vor der Pandemie | |
kamen die Deutschen, Engländer und Franzosen nicht mehr.“ Das hat | |
politische Gründe, glaubt er. „Seit unser Präsident sich zum | |
Alleinherrscher aufgeschwungen hat, seit der Putschversuch dazu genutzt | |
wurde, jede oppositionelle Meinung zu verbieten und die Leute ins Gefängnis | |
zu werfen, kommen die Europäer nicht mehr.“ | |
Fünf Jahre [1][nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016] ist die Stimmung | |
in der Türkei mies. Das gilt nicht nur für Oppositionelle, auch in der | |
Anhängerschaft des Präsidenten rumort es. Dabei klagt Mustafa K. noch auf | |
hohem Niveau. Es kommen zwar kaum noch europäische Besucher an die | |
türkische Ägäisküste, aber dafür jede Menge inländische Touristen. Die | |
bringen zwar weniger Geld ein, doch weder Mustafa K. noch die meisten | |
anderen Einwohner der Küstenstädte müssen deswegen am Hungertuch nagen. | |
Da sieht es in den Vororten und Randbezirken in Istanbul und Ankara, ganz | |
zu schweigen von Großstädten im Osten, wie Gaziantep oder Diyarbakır, ganz | |
anders aus. Seit [2][die türkische Lira] in den letzten eineinhalb Jahren | |
dramatisch an Wert verloren hat, sind die Preise für Grundnahrungsmittel, | |
für Strom und Gas in die Höhe geschossen. Die offizielle Inflationsrate | |
beträgt 18 Prozent, viele Lebensmittelpreise sind sogar um 60 Prozent | |
innerhalb eines Jahres gestiegen. Diese Preissteigerungen treffen auf eine | |
ständig steigende Arbeitslosigkeit, die fast die Hälfte der jungen Leute | |
betrifft. | |
## Ein Land verstummt | |
In vielen Familien gibt es nicht mehr genug zu essen, stellte der linke | |
Gewerkschaftsdachverband DISK bereits vor einigen Monaten fest, die | |
Wirtschaftspolitik der Regierung sei eine Katastrophe. Obwohl [3][die | |
Coronapandemie] wie in vielen anderen Ländern auch zur Armut beigetragen | |
hat, ist die wirtschaftliche Krise doch das deutlichste Zeichen für das | |
Versagen der Präsidialherrschaft von [4][Recep Tayyip Erdoğ]an. | |
Nach dem Putschversuch 2016 hatte er im Frühjahr 2017 per | |
Verfassungsänderung das parlamentarische System der Türkei in ein | |
Präsidialsystem umändern lassen, das mit seiner Wahl zum Präsidenten mit | |
exekutiven Vollmachten 2018 dann in Kraft trat. Fünf Jahre nach dem | |
Putschversuch, mit dem diese Transformation begann, ist die Türkei nun in | |
weiten Teilen ein anderes Land. | |
Wehmütig erinnerten sich TeilnehmerInnen der Protestaktionen gegen die | |
Abschaffung der Istanbul Konvention am 1. Juli an die Zeit vor dem | |
Putschversuch. „Im Jahr der Gezi Proteste 2013 waren zum Christopher Street | |
Day in Istanbul 100.000 Leute auf der Straße, heute freuen wir uns, wenn | |
wir noch 100 Leute mobilisieren können“, beschreibt Lale B. die Situation. | |
„Obwohl die Situation für viele Frauen immer schwieriger wird, die Gewalt | |
zunimmt und immer mehr Frauen ermordet werden, haben die meisten Angst zu | |
protestieren. Die Repression der letzten fünf Jahre hat uns fast stumm | |
gemacht“. | |
Tatsächlich fällt es bereits schwer, sich daran zu erinnern, wie aktiv die | |
türkische Zivilgesellschaft einmal war. Heute ist sie nur noch ein Schatten | |
ihrer selbst. Von den Leuten, die sich bei [5][den Gezi-Protesten] | |
hervorgetan hatten, sind die meisten im Ausland oder sitzen im Gefängnis. | |
Völlig an den Haaren herbeigezogene Terror-Vorwürfe gegen Amnesty, Open | |
Society und andere zivilgesellschaftliche Organisationen haben die | |
Mitglieder zermürbt, viele haben sich zurückgezogen. | |
Noch immer finden fast täglich Prozesse gegen Journalisten oder | |
Twitter-Aktivisten wegen Präsidentenbeleidigung oder angeblicher | |
Terror-Propaganda statt. Allein die Masse der Verfahren führt dazu, dass | |
nicht mehr für jeden Angeklagten die notwendige Unterstützung mobilisiert | |
werden kann. Die Repression ist so alltäglich, so selbstverständlich | |
geworden, dass viele sie achselzuckend zur Kenntnis nehmen. | |
Immer wieder hat es in den letzten fünf Jahren aber auch ein großes | |
Aufbegehren gegen Erdoğans autokratischen Ein-Mann-Staat gegeben. Im Sommer | |
2017 initiierte der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Kemal | |
Kılıçdaroğlu, seinen Marsch für Gerechtigkeit von Ankara nach Istanbul, um | |
gegen Erdoğans Vereinnahmung der Justiz und die Verhaftung prominenter | |
Oppositionspolitiker zu protestieren. | |
Zehntausende Menschen säumten die Straßen, weitere Zehntausende liefen mit | |
Kılıçdaroğlu mit, als dieser nach 25 Tagen in Istanbul ankam. Es war ein | |
Fanal des Widerstands, das kaum jemand dem biederen CHP-Vorsitzenden | |
zugetraut hätte, doch Erdoğan ließ die Leute einfach auflaufen. Ein | |
CHP-Politiker wurde aus der Untersuchungshaft entlassen und das war es. | |
## Erdoğan hat sein Ziel erreicht | |
Als Erdoğan den nach dem Putsch verhängten Ausnahmezustand nach zwei Jahren | |
im Sommer 2018 endlich für beendet erklärte, schien er seine Ziele erreicht | |
zu haben. Hunderte Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten waren | |
geschlossen oder auf Linie gebracht. Die öffentliche Verwaltung, Schulen | |
und Universitäten von Kritikern gesäubert, die Opposition im Parlament | |
gedemütigt und die Parteiführung der kurdisch-linken HDP im Gefängnis. | |
Doch im Frühjahr 2019 erlebte Erdoğan wider Erwarten ein Debakel. Der | |
Alleinherrscher, den niemand mehr zu kritisieren wagte, verlor die | |
Kommunalwahlen und dabei die wichtigsten Städte Istanbul und Ankara. Mit | |
den Bürgermeistern der beiden größten Städte der Türkei, Ekrem İmamoğlu … | |
Mansur Yavaş, gibt es plötzlich zwei Politiker, die es nach Meinung des | |
Publikums durchaus mit ihm aufnehmen können. | |
Erdoğan versuchte den Popularitätsverlust mit aggressiven außenpolitischen | |
Aktionen im Mittelmeer und der Umwandlung der Hagia Sophia und der | |
Chora-Kirche in Moscheen entgegenzutreten und seinen | |
nationalistisch-islamistischen Anhang noch einmal in maximaler | |
Geschlossenheit hinter sich zu versammeln. Doch alle Meinungsumfragen der | |
letzten Monate zeigen, dass der Ein-Mann-Staat seinen Zenit bereits | |
überschritten hat. Jetzt rächt sich für Erdoğan die Alleinherrschaft, weil | |
sie auch bedeutet, allein die Verantwortung für die Misserfolge übernehmen | |
zu müssen. | |
## Die Wirtschaft liegt am Boden | |
Weit über die Pandemiefolgen hinaus hat Erdoğan die Wirtschaft der Türkei | |
an die Wand gefahren. Die Lira ist abgestürzt, es gibt keine ausländischen | |
Investitionen mehr – auch weil niemand mehr dem türkischen Rechtsstaat | |
vertraut – und auch die türkischen Großunternehmen haben ihr Geld längst | |
ins Ausland gebracht. Seit einigen Wochen erschüttert zudem ein Mafia-Chef | |
aus dem Exil das Land. Sedat Peker, eigentlich ein Anhänger Erdoğans, ist | |
in den Intrigen rund um den Präsidenten unter die Räder geraten, musste | |
fliehen und packt nun aus dem Ausland per Videobotschaften über die | |
korrupte Innenausstattung der Macht aus. | |
Dabei tun sich echte Abgründe auf. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt was | |
Peker behauptet, gibt es im Umfeld Erdoğans jede Menge Leute, deren | |
Interesse nur noch darin besteht, sich zu bereichern, und die dabei auch | |
vor kriminellen Aktionen nicht zurückschrecken. Unter dem Deckmantel der | |
Frömmigkeit kommen skrupellose Korruption und erbitterte Machtkämpfe | |
zutage. Nach Umfragen halten selbst die Mehrheit der AKP-Wähler den | |
Mafia-Boss für glaubhafter als die müden Dementis der Regierung. Erdoğan | |
selbst weiß nicht, wie er reagieren soll, und macht einen völlig | |
abgehobenen Eindruck, als habe er den Kontakt zur Bevölkerung längst | |
verloren. | |
Dazu mehren sich Gerüchte, die den Eindruck der Endzeitstimmung im | |
Präsidentenpalast verstärken. Erdoğan, so berichtete ein bekannter | |
Journalist, hätte bei Meral Akşener, der Vorsitzenden der immer stärker | |
werdenden oppositionellen İyi Parti, sondieren lassen, ob er und rund 300 | |
Leute aus seinem Umfeld eine Amnestiegarantie bekommen, wenn er die | |
Rückkehr zum parlamentarischen System einleiten würde. | |
Die İyi Parti (Gute Partei) ist eine Abspaltung der ultranationalistischen | |
MHP, die Erdoğan als Koalitionspartner stützt, aber rapide an Zustimmung | |
verliert. Akşener hat dagegen eine Wahl-Allianz mit der CHP gebildet, die | |
die Rückkehr zum parlamentarischen System als oberste Priorität vertreten. | |
Erdoğan droht aber auch Gefahr aus den eigenen Reihen. Hinter vorgehaltener | |
Hand wird in Ankara kolportiert, dass immer mehr AKP-Abgeordnete, die schon | |
lange keinen Zugang mehr zum inneren Zirkel um Erdoğan haben, bereit seien, | |
zur Opposition überzulaufen. | |
Das bleibt nicht ohne Wirkung. Die Führer der Opposition werden mutiger. In | |
der Debatte über den umstrittenen Kanal, den Erdoğan entgegen allen | |
ökologischen Einwänden vom Schwarzen [6][Meer zum Marmarameer] bauen lassen | |
will, warnte Kılıçdaroğlu ausländische Investoren und sagte, nach einem | |
Regierungswechsel würde Kredite nicht mehr bedient. Wo das Wort | |
Regierungswechsel vor ein paar Jahren noch wie Wunschdenken geklungen | |
hätte, scheint jetzt selbst das internationale Kapital Erdoğan keine große | |
Zukunft mehr einzuräumen. Rund 400 Geldinstitute weltweit sollen | |
Kreditanfragen seiner Regierung für den Kanal abgelehnt haben. | |
Gut möglich, dass auch die Zivilgesellschaft bald wieder mutiger wird. Ein | |
Zeichen haben bereits die Studenten der Bosporus-Universität in Istanbul | |
gesetzt, die seit Anfang des Jahres ununterbrochen gegen die Einsetzung | |
eines neuen Rektors durch Erdoğan protestieren. Aller Repression zum Trotz. | |
15 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Wolf Wittenfeld | |
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