# taz.de -- Zum Tod von Aydın Engin: Auf der richtigen Seite | |
> Mit Aydın Engin ist ein bedeutender Journalist und Intellektueller der | |
> Türkei verstorben. Unser Autor konnte ihn bei seiner Arbeit kennenlernen. | |
Bild: Engin im Jahr 2017, als er noch Kolumnist bei „Cumhuriyet“ war | |
Es ist der 15. Juli 2016. Ich hatte gerade meine Schicht bei der türkischen | |
Tageszeitung Cumhuriyet beendet und mich mit einem Freund getroffen, als | |
ich erfuhr, dass Panzer auf die Bosporus-Brücke gefahren waren. Ich rannte | |
zurück in die Redaktion. Viele verantwortliche Redakteur:innen konnten | |
nicht zurückkommen, weil die Straßen Istanbuls gesperrt waren. Wir waren | |
eine Gruppe junger, unerfahrener [1][Journalist:innen am Newsdesk] im | |
dritten Stock. Wir hörten Kampfjets, das Licht ging an und aus, die | |
Telefone funktionierten nicht mehr und wir versuchten irgendwie, | |
Informationen von Kolleg:innen aus Ankara zu bekommen, um eine Zeitung | |
für den nächsten Tag zu produzieren. | |
Als ich erfuhr, dass [2][Soldaten auf dem Taksim-Platz standen], eilte ich | |
ein Stockwerk höher und schrie vor Aufregung fälschlicherweise: „Die | |
Polizei ist auf dem Taksim!“ „Was für Polizisten? Das sind bestimmt | |
Soldaten, mein Junge“, antwortete Aydın Engin mir. Er sah besorgt aus. | |
Im Gegensatz zu uns hatte er schon mehrere Militärputsche erlebt. Dass er | |
an diesem Tag in der Redaktion war, gab uns deshalb Sicherheit. Wie | |
angebracht seine Sorge doch war, zeigte sich wenige Monate später. Er | |
gehörte zu den [3][Kolleg:innen, die bei einer Razzia in der Redaktion | |
festgenommen wurden]. Auch dieses Mal klagten sie ihn an. | |
Aydın Engin wurde 1941 in Ödemiş in der Provinz İzmir geboren. Er brach ein | |
Jurastudium ab, um sich dem Theater zu widmen, arbeitete als Drehbuchautor | |
des bekannten Regisseurs Yılmaz Güney. Sein Theaterstück „Devr-i Süleyman… | |
wurde 1967 mit der Begründung verboten, dass er den damaligen | |
Ministerpräsidenten, Süleyman Demirel, kritisiere. Das Verbot wurde von | |
einem Gericht kassiert und das Stück Hunderte Male ausverkauft aufgeführt. | |
1969 fing Engin an, für Gewerkschaften zu arbeiten und danach mit dem | |
Journalismus. 1971, als er Textchef der Zeitschrift Yeni Ortam war, kam es | |
zum Militärputsch. Engin kam ins Gefängnis. Nach der Haft gründete er mit | |
anderen die Sozialistische Arbeiterpartei der Türkei. In den 1970ern war er | |
Chefredakteur der linken Tageszeitung Politika. | |
## 12 Jahre in Deutschland | |
Nach dem Militärputsch 1980 musste er wieder ins Gefängnis. Als er wegen | |
eines bürokratischen Fehlers frühzeitig freigelassen wurde, flüchtete er | |
mit seiner Partnerin Oya Baydar nach Deutschland. Hier verbrachte er 12 | |
Jahre, arbeitete als Taxifahrer und schrieb in seinem Buch „Ben | |
Frankfurt’ta Şöförken“ („Ich als Taxifahrer in Frankfurt“) darüber.… | |
nur die humorvollen Erzählungen machen es lesenswert, sondern auch seine | |
Beobachtungen der damaligen Gesellschaft der Bundesrepublik. Nach seiner | |
Rückkehr in die Türkei Anfang der 90er musste er die verbleibende | |
Haftstrafe absitzen. Dann schrieb er für die Zeitungen Cumhuriyet, Birgün, | |
Agos und das Nachrichtenportal T24. | |
2015 durfte ich ihn bei der Cumhuriyet kennenlernen, wo er eine Kolumne | |
schrieb. Anders als andere ältere Kolleg:innen war Engin zugänglich und | |
nahbar. Immer wenn er in den dritten Stock kam, mit den Händen auf dem | |
Rücken und kleinen Schritten, da freute ich mich auf den Witz, den er | |
gleich machen würde. Während in der Türkei alles immer schlimmer wurde, wir | |
uns von einer Katastrophennachricht zur nächsten hangelten, brachte er mit | |
seiner Art immer ein bisschen Erleichterung. | |
Anfang 2017 startete ich mit Kolleg:innen in der taz [4][die | |
türkisch-deutsche Onlinepublikation taz gazete] und bat Engin um | |
Unterstützung. Er nahm sich Zeit für uns. In [5][seinen Artikeln], die er | |
für uns schrieb, lieferte er deutsche Übersetzungen mancher türkischer | |
Begriffe mit, um uns die Arbeit zu vereinfachen. | |
Als die Cumhuriyet [6][2018 in Folge unbegründeter Terrorvorwürfe eine neue | |
Leitung] bekam, war klar, dass Engin auf der richtigen Seite stehen würde. | |
Er verließ die Zeitung und kritisierte die dortigen Vorgänge lautstark. | |
Seitdem schrieb er für das Nachrichtenportal T24. | |
In seiner letzten Kolumne vom 11. Februar zeigte er, dass auch große | |
Journalisten wie er mit Jahrzehnten Erfahrung Selbstkritik üben können. In | |
jener Kolumne schrieb er, dass er mit seinen Texten zuletzt nicht sehr | |
zufrieden gewesen sei, dass er eine Weile pausieren wolle. „Wie lange? Ich | |
weiß es nicht. Ich hoffe nicht lange.“ Diese Kolumne war seine letzte. Am | |
24. März verstarb Aydın Engin im Alter von 81 Jahren aufgrund von | |
Komplikationen, die nach einer Operation Anfang März aufgetreten waren. | |
Aus dem Türkischen übersetzt von Volkan Ağar | |
28 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Cumhuriyet-Journalist-ueber-seine-Zeitung/!5349996 | |
[2] /Putschversuch-in-der-Tuerkei/!5325488 | |
[3] /Ahmet-k/!5437442 | |
[4] https://gazete.taz.de/article/index.html%3Farticle=!5703952.html | |
[5] /Tuerkiye-sanda-gidiyor/!5380920 | |
[6] https://gazete.taz.de/article/index.html%3Farticle=!5535320.html | |
## AUTOREN | |
Ali Çelikkan | |
## TAGS | |
Türkei | |
Pressefreiheit in der Türkei | |
Journalismus | |
Nachruf | |
Pressefreiheit in der Türkei | |
Schwerpunkt Protest in der Türkei | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Pressefreiheit in der Türkei: Die Klagewut | |
Beleidigung des Präsidenten Erdoğan? Angebliche Terrorpropaganda? Das sind | |
beliebte Instrumente der türkischen Strafverfolgungsbehörden. | |
Gescheiterter Putsch in Türkei: Über den Zenit | |
2016 scheiterten Teile des türkischen Militärs mit einem Putschversuch | |
gegen die Regierung Erdoğan. Mittlerweile regt sich neue Hoffnung. | |
Pressefreiheit in der Türkei: Rückkehr der Ultrakemalisten | |
Die „Cumhuriyet“ hat eine neue Leitung – und viele Mitarbeiter gehen. Ayd… | |
Engin, ein Cumhuriyet-Veteran, spricht über die Hintergründe. |