# taz.de -- Polnischer Ex-Richter über EU-Recht: „Das totale Chaos würde au… | |
> Polens Verfassungsgericht könnte entscheiden, dass nationales Recht höher | |
> wiegt als EU-Recht. Brüssel sollte Strafzahlungen erwägen, so Jerzy | |
> Stepien. | |
Bild: In neuem Gewand: Die Statue von König Sigismund III. trägt ein Tuch mit… | |
taz: Herr Stepien, plant Polens Regierung einen Pol-Exit light aus der EU? | |
Geld aus Brüssel – ja, EU-Recht wie auch Urteile aus Luxemburg und | |
Straßburg – eher nicht? | |
Jerzy Stepien: Die Frage, ob EU-Recht über dem nationalen Verfassungsrecht | |
steht oder ob die Rangfolge umgekehrt ist, wird immer mal wieder | |
diskutiert. In Polen wie auch in anderen Mitgliedsstaaten. Auch in | |
Deutschland übrigens. 2006 hat das polnische Verfassungsgericht | |
festgestellt, dass der Europäische Haftbefehl gegen die polnische | |
Verfassung verstößt. Was sollten wir tun? Die EU verlassen? Die EU und alle | |
anderen Mitgliedstaaten bitten, ihr Recht zu ändern? Oder die polnische | |
Verfassung ändern? Wir haben die Verfassung geändert. Ein [1][Pol-Exit] | |
wäre absurd gewesen. | |
Was ist heute anders? | |
Dieses Mal will Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki vom polnischen | |
Verfassungsgericht feststellen lassen, dass Teile der EU-Verträge für Polen | |
nicht mehr verbindlich sind, da unsere Verfassung etwas anderes sagt und | |
über dem EU-Recht steht. Dies soll auch für Urteile des Europäischen | |
Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg und des Europäischen Gerichtshofs für | |
Menschenrechte (EGMR) des Europarats gelten. | |
Das klingt absurd … | |
Ja, denn es entsteht die Situation von 2006: Was sollen wir in dieser | |
Situation tun? Pol-Exit – nein, EU-Recht ändern – nein, die polnische | |
Verfassung ändern – nein. Die derzeit in Polen regierenden | |
Nationalpopulisten scheinen davon auszugehen, dass sie einseitig Teile des | |
EU-Rechts aufkündigen, Urteile der Europäischen Gerichtshöfe mal | |
respektieren und mal nicht respektieren können – und nichts geschieht. | |
Bislang hat die EU tatsächlich nicht allzu viel gegen Rechtsbrüche in | |
einzelnen Mitgliedsländern unternommen? | |
Aber einen solchen Fall hat es auch noch nicht gegeben. Am Donnerstag | |
sollen fünf Verfassungsrichter in Warschau entscheiden, ob es einen | |
Pol-Exit aus dem Rechtssystem der EU geben soll. In einem solchen Fall | |
könnte die EU nicht untätig zusehen, denn das würde das Aus für das | |
EU-Gemeinschaftsrecht bedeuten. Jedes der 27 Mitgliedsländer könnte seine | |
Verfassung über das EU-Recht stellen, es mal anerkennen, mal nicht. Das | |
totale Chaos würde ausbrechen. | |
Schon vorher hatte der EuGH in Luxemburg – auch für Donnerstag – sein | |
Urteil zur umstrittenen Disziplinarkammer am obersten Gericht in Warschau | |
angekündigt. Warum setzte das polnische Verfassungsgericht dann urplötzlich | |
Verfahren für Dienstag, Mittwoch und ebenfalls Donnerstag an? | |
Es ist eine Art Showdown: „Polen gegen die EU“. Auch den | |
PiS-Wähler:innen soll gezeigt werden, dass Jarosław Kaczyński, der | |
PiS-Parteichef, ein starker Politiker ist und sich von einem EU-Gericht | |
nichts sagen lässt. In den Verfahren vor dem | |
„Julia-Przyłębska-Gericht“, wie wir Rechtsstaats-Anhänger:innen | |
das politisierte Verfassungsgericht unter seiner aktuellen Vorsitzenden | |
nennen, werden PiS-Leute vor laufenden Kameras ihre ideologischen Muskeln | |
spielen lassen. Ob dann Urteile fallen? Warten wir es ab. | |
Wieso ist ausgerechnet das Luxemburger Urteil über die Disziplinarkammer in | |
Warschau für die PiS so wichtig? | |
Mit diesem Urteil könnte die gesamte [2][Gerichts-“Reform“] der PiS ins | |
Wanken geraten. Denn es geht nicht nur um die Disziplinierung von | |
Richter:innen und die Aufhebung ihrer Immunität, so dass sie | |
strafrechtlich verfolgt werden können. In erster Linie geht es um die | |
Zusammensetzung der Kammer. | |
Könnten Sie das näher erklären? | |
Alle ihre Richter wurden vom politisierten Neo-Landesjustizrat (NeoKRS) | |
ernannt und gelten gemeinhin als nicht unabhängig. Die PiS hatte mit ihrer | |
Stimmenmehrheit im Parlament den alten Landesjustizrat aufgelöst. An die | |
Stelle dieses Selbstverwaltungsorgan der Richter:innen trat der NeoKRS | |
mit Politikern und Beamten aus der Legislative und der Exekutive. Damit war | |
die Gewaltenteilung aufgehoben. Die Luxemburger Richter könnten am | |
Donnerstag urteilen, dass nicht nur die Disziplinarkammer, sondern auch der | |
Neo-Landesjustizrat gegen EU-Recht verstößt. | |
Und dann soll das Julia-Przyłębska-Gericht zur Verteidigung antreten und | |
sagen: „Hier hat die polnische Verfassung Vorrang“? | |
Genau. Wobei ich allerdings der Auffassung bin, dass Disziplinarkammer und | |
NeoKRS auch gegen die polnische Verfassung verstoßen. | |
Nehmen wir an, dass in Luxemburg das erwartete Urteil fällt und in Warschau | |
das Gegenurteil. Wie kann dieser gordische Knoten gelöst werden? | |
Die Europäische Kommission müsste sich an den EuGH wenden und finanzielle | |
Strafen für die Nichtrespektierung von EuGH-Urteilen fordern. Die Erfahrung | |
mit anderen Ländern zeigt, dass das funktioniert. Die Franzosen haben sogar | |
unter Androhung von Strafzahlungen ihren Code Civil von Napoleon Bonaparte | |
geändert. | |
Aber wäre es damit ausgestanden? Das Problem liegt doch tiefer. Was für ein | |
Rechtsverständnis hat die PiS? | |
Im Allgemeinen geht man davon aus, dass das Recht unser Zusammenleben | |
regelt, öffentlich und privat, national und international. Der Gesetzgeber, | |
also die Abgeordneten, müssen bei jedem neuen Gesetz den Kontext der | |
anderen Gesetze und des gesamten Rechtssystems beachten. Die PiS jedoch | |
geht davon aus, dass das Recht ein Machtinstrument ist, mit dem sie als | |
Regierende jedes Problem zu ihren Gunsten regeln können. | |
Könnten Sie dafür ein aktuelles Beispiel nennen? | |
Das geplante Gesetz über den privaten Fernsehsender TVN, dessen Eigentümer | |
die US-amerikanische Firma Discovery ist: Die „lex TVN“ ist auf diesen | |
einen Fernsehsender zugeschnitten, die der PiS – rechtzeitig vor den | |
nächsten Parlamentswahlen – einen kritischen Sender vom Hals schaffen soll. | |
Das hat mit der Idee des Rechts nichts zu tun. Schlimmer noch: Es ist seine | |
Negation. Wir waren überzeugt, dass dieses primitive Rechtsverständnis, wie | |
es in den 1930er bis 1950er Jahren in Europa gängig war, überwunden ist. | |
Doch in Polen ist es zurück. | |
Finden Sie den Begriff „Doppelstaat“ angemessen, mit dem die ehemalige | |
Verfassungsrichterin Ewa Łętowska die aktuelle Situation in Polen | |
charakterisiert hat? | |
Ja, denn die Regierenden und die Opposition leben in zwei völlig | |
verschiedenen Welten, ebenso ihre jeweiligen Anhänger:innen in der | |
Bevölkerung. Im Parlament hat die Opposition kaum noch ein Rederecht, muss | |
sich aber so unfassbare Beleidigungen wie „Ihr Verräterfressen!“ von | |
PiS-Chef Kaczyński gefallen lassen. Die PiS hat eine eigene Sprache | |
erfunden, um Nicht-PiS-Anhänger:innen als „schlechtere Polen“ oder | |
als Richter-„Kaste“ diffamieren zu können. Leider konnte uns die EU nicht | |
davor bewahren, dass wir heute in einem autoritären Staat leben müssen. | |
14 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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