| # taz.de -- Streit um KZ-Gelände in Hersbruck: Der Grund der Erinnerung | |
| > Ist Boden, auf dem einst Tausende Opfer der Nazis starben, heilig? Eine | |
| > Grundsatzfrage, an der sich in Hersbruck derzeit die Geister scheiden. | |
| Bild: Thomas Wrensch vor dem Kubus, der an die KZ-Außenstelle Hersbruck erinne… | |
| Hersbruck taz | Es ist ja nichts da. Keine Baracken. Keine Wachtürme. Kein | |
| Krematorium. Nichts. Zumindest nichts, was man sehen könnte. Was da ist: | |
| die Erinnerung, das Wissen, was hier einmal war. Das Wissen um die | |
| Verbrechen, die hier begangen wurden. Hier in der KZ-Außenstelle Hersbruck. | |
| Und gerade diese Diskrepanz zwischen dem, was einmal war, und dem, was ist, | |
| sorgt in dem mittelfränkischen Städtchen gerade für Missstimmung. Konkret | |
| geht es darum, dass das Nichts nun bebaut werden soll. | |
| Einer der Missgestimmten ist Thomas Wrensch. Der Pfarrer und | |
| Religionslehrer im Ruhestand ist Vorsitzender eines Vereins mit dem etwas | |
| sperrigen Namen [1][Dokumentationsstätte Konzentrationslager Hersbruck], | |
| den viele daher schlicht „Doku-Verein“ nennen, und führt einen zu dem | |
| ehemaligen KZ-Gelände. Unterwegs zeigt Wrensch auf eine Anhöhe, die man | |
| zwischen zwei Hausdächern erkennen kann. „Das da hinten ist die Houbirg“, | |
| sagt er. | |
| Über 9.000 Menschen haben die Nazis nach Hersbruck gebracht, um in der | |
| Houbirg Stollen für eine unterirdische Motorenfabrik für Jagdflugzeuge zu | |
| bauen. Bis zu 6.000 Menschen befanden sich gleichzeitig in dem für 2.000 | |
| Häftlinge angelegten Lager. Nur 3000 bis 4.000 von ihnen haben Schätzungen | |
| zufolge überlebt. Die anderen starben aufgrund der unmenschlichen | |
| Bedingungen, unter denen sie arbeiten mussten, oder auf den sechs | |
| Todesmärschen, bei denen die Häftlinge kurz vor Kriegsende noch nach | |
| [2][Dachau] gebracht werden sollten. | |
| Wrensch schiebt sein Fahrrad in eine Seitenstraße. Bis nach Happurg am Fuße | |
| der Houbirg, wo die Stolleneingänge waren, wären es zwar Luftlinie nur 1,5 | |
| Kilometer gewesen, erklärt Wrensch, da es aber keine Brücke über die | |
| Pegnitz gab, mussten die Häftlinge einen Umweg gehen – fünf Kilometer lang. | |
| „Die sind sie marschiert. Durch die Stadt, wahrgenommen von der | |
| Bevölkerung.“ | |
| ## Bloß nicht wie Dachau werden | |
| Hersbruck war ein Außenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg. Doch | |
| weil es so groß war, wird es oft als eigenständiges KZ betrachtet, als das | |
| drittgrößte süddeutsche Konzentrationslager nach Dachau und Flossenbürg. | |
| Die ersten Häftlinge kamen im Frühjahr 1944 hierher, politisch Verfolgte, | |
| auch Juden. Menschen aus 23 Nationen. Das Lager bestand bis Anfang April | |
| 1945, als die SS es angesichts der anrückenden US-Streitkräfte räumte. | |
| Hersbruck liegt nordöstlich von Nürnberg, in 15 Minuten ist man mit dem Zug | |
| in der Metropole. Historisch war das Städtchen nicht sonderlich auffällig – | |
| bis auf das KZ. Dessen Bau stieß damals nicht gerade auf den Widerstand der | |
| Hersbrucker Bevölkerung. „Hersbruck war eh braun“, sagt Wrensch, „das hat | |
| damals ganz gut reingepasst.“ Und Geld habe das Nazi-Projekt der Stadt | |
| natürlich auch gebracht. Keine schöne Geschichte. | |
| So wollte man auch nach dem Krieg lange Zeit nichts mehr davon wissen. Bloß | |
| nicht in den Köpfen der Menschen zum Synonym für ein KZ werden, so wie | |
| Dachau. Die Baracken wurden abgerissen, ein großer Teil des Geländes mit | |
| Wohnungen bebaut. Noch in den Achtzigern soll der Gymnasiast Gerd Vanselow, | |
| der in einer Facharbeit die Geschichte des KZs aufgearbeitet hat, als | |
| Nestbeschmutzer beschimpft worden sein. | |
| ## Noch wird auf dem Gelände Tennis gespielt | |
| In den letzten Jahrzehnten hat sich das Klima dann entscheidend geändert. | |
| Heute ist man sich in Hersbruck der dunklen Seite der Geschichte sehr | |
| bewusst, bemüht sich um einen angemessenen Umgang damit. Das sagt auch | |
| Thomas Wrensch. Nur wenn es ums Thema Bebauung gehe, werde es halt immer | |
| schwierig. | |
| Es geht vorbei an Schrebergärten und dem Rosengarten, wo auch eine Skulptur | |
| des letzten KZ-Überlebenden [3][Vittore Bocchetta] an die Opfer erinnert, | |
| dann stellt Wrensch sein Fahrrad ab. Er steht nun am Rande eines | |
| Parkplatzes. Daneben zwei Tennisplätze. Ein recht trostloser Platz. Hier | |
| war der Appellplatz des Lagers. An diesem Ort soll nun ein Altenheim der | |
| Diakoneo gebaut werden. Vier Stockwerke, 110 Betten. Ende Juli hat der | |
| Bauausschuss dem Projekt sein Okay gegeben. Der Doku-Verein erfuhr daraus | |
| aus der Zeitung. Dass es mit dem Bauland eine besondere Bewandtnis hat, kam | |
| in dem Bericht nicht zur Sprache. | |
| Die Antwort des Doku-Vereins kam in Form einer [4][Stellungnahme auf der | |
| eigenen Homepage]: Nicht einverstanden sei man mit den Plänen. Die Stadt, | |
| so der Vorwurf, wolle den letzten noch freien Teil des ehemaligen KZ | |
| überbauen, ohne dabei „das Erinnern und Gedenken an die Opfer der | |
| Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus zu erhalten oder zu fördern“. | |
| Die Stadt folge der Logik einer geschichtslosen Bebauung und verfehle alle | |
| Ziele der gegenwärtigen Erinnerungskultur. | |
| ## „Das Gedenken wird an die Seite geschoben“ | |
| Auf der anderen Seite des Geländes macht sich ein hellgrüner Bau breit, der | |
| mit seinem riesigen Vordach etwas wie eine überdimensionierte Tankstelle | |
| aussieht. Das Finanzamt. 140 Menschen arbeiten hier. 2009 hat es der | |
| Freistaat hier errichtet. Und zuvor das letzte steinerne Relikt des Lagers, | |
| die ehemalige SS-Kommandatur, abgerissen. Ein Fehler, wie heute mancher | |
| meint. | |
| Das Gedenken, ärgert sich nun erneut der Doku-Verein, werde „ausgegrenzt | |
| und an die Seite geschoben“. Gemeint ist damit vor allem der | |
| Dokumentationsort, der 2016 am Rande des Geländes errichtet wurde. Das | |
| kleine schwarze Gebäude hat die Form eines trapezförmigen Prismas. Eine | |
| entsprechend große geometrische Kulanz vorausgesetzt, könnte es einen ganz | |
| entfernt an einen Würfel erinnern. Den schwarzen Kubus nennen die | |
| Hersbrucker deshalb den Dokumentationsort. In seinem Inneren werden in | |
| einem 360-Grad-Panorama die heutige Umgebung mit dem ehemaligen KZ | |
| kontrastiert. | |
| Auf einen Tisch sollten zudem die Namen nahezu aller Häftlinge projiziert | |
| werden – mit 90 exemplarischen Kurzbios. Sollten. Die Projektion | |
| funktioniert schon seit Monaten nicht mehr. In diesen Kubus, so die | |
| Befürchtung des Vereins, soll nun die gesammelte Erinnerung an das KZ | |
| gepackt werden – auf dass sie andernorts nicht störe. | |
| Auch Robert Ilg ist verstimmt, versteht seine Hersbrucker Welt nicht mehr. | |
| Die Stellungnahme des Doku-Vereins hat ihn merklich getroffen. Der | |
| Bürgermeister sitzt in seinem Amtszimmer und schüttelt den Kopf. Draußen | |
| bringen Arbeiter von einer Hebebühne aus gerade die Weihnachtsdekoration an | |
| der Fassade des Rathauses an. Man habe doch immer gut mit dem Verein | |
| zusammengearbeitet, erzählt Ilg. Vor dessen Stellungnahme habe es zwei | |
| Gespräche mit Vertretern des Vereins gegeben. Er habe zur Kenntnis | |
| genommen, dass da noch offene Fragen und der Wunsch nach Mitgestaltung | |
| seien – was er auch sehr ernst nehme. „Ich hatte gedacht, wir hätten in den | |
| Gesprächen einen Weg definiert, den wir gemeinsam gehen können.“ Es sei ja | |
| auch nichts im Verborgenen vorbereitet worden. Der gesamte Planungsprozess | |
| sei öffentlich debattiert worden. | |
| ## „Allmächd, so groß war das“ | |
| Es hätte, so Ilg, gute 20 Jahre Gelegenheit gegeben, sich mit dem Thema der | |
| weiteren Veränderung des Geländes auseinanderzusetzen. Auch bei dem Bau des | |
| Finanzamts habe er diese Vehemenz nicht verspürt. „Und ich persönlich halte | |
| es für würdevoller, wenn dort Menschen mit Betreuungsbedarf Wohnraum | |
| gegeben wird, als wenn dort Tennis gespielt wird.“ | |
| Ähnlich sehen das auch Karl Freller und Jörg Skriebeleit – zwei, die in | |
| Sachen Erinnerungskultur zu den wichtigsten bayerischen Wortführern zählen. | |
| Freller ist Direktor der [5][Stiftung Bayerische Gedenkstätten] und | |
| Vizepräsident des Landtags, Skriebeleit leitet die [6][KZ-Gedenkstätte | |
| Flossenbürg]. Entscheidend sei, sagen beide, dass es auf dem Gelände | |
| keinerlei Elemente aus dem KZ mehr gebe. Ein Altenheim auf dem ehemaligen | |
| Appellplatz? Damit haben beide kein Problem. Allerdings, findet Freller, | |
| müsse man die besondere Bedeutung dieses Grundstücks in der Planung des | |
| Baus schon berücksichtigen. | |
| Dafür hat der CSU-Politiker auch schon zwei ganz konkrete Vorschläge: Zum | |
| einen sollte Diakoneo das Heim doch nach einem oder mehreren der Häftlinge | |
| benennen. Zum anderen wünscht sich Freller an einer gut frequentierten | |
| Stelle am Rande des Geländes ein wetterfestes, dreidimensionales Modell der | |
| Anlage, das erkennen lässt, wo und wie groß das KZ war: „Damit die riesige | |
| Dimension erkennbar wird. Damit die Leute, die vorbeigehen, neugierig | |
| werden und sagen: Allmächd, so groß war das.“ | |
| Doch ist es wirklich so einfach, der besonderen Geschichte dieses Ortes | |
| gerecht zu werden? Immer wieder steht da das Argument des heiligen Bodens | |
| im Raum, vorgebracht auch von Mitgliedern des Doku-Vereins. Auf diesem | |
| Boden seien Menschen gestorben, heißt es dann, und zwar massenweise. Da | |
| verbiete sich jede Bebauung. Dem entgegnet Freller: „Wenn auf diesem – ich | |
| zitiere – heiligen Boden künftig Menschen am Lebensende gepflegt werden und | |
| man sich sorgenvoll um sie bemüht, ist das genau der Antipode zu dem, was | |
| dort vor 80 Jahren stattgefunden hat. Was kann es Besseres geben, als dass | |
| auf einer Fläche, wo hasserfüllt gemordet wurde, jetzt in Nächstenliebe | |
| gepflegt wird?“ | |
| ## Eine vielfältige Form der Erinnerungskultur | |
| Auch für Jörg Skriebeleit kann es nicht das oberste Gebot sein, solche | |
| Flächen freizuhalten. „Wenn man diese Haltung anlegen würde, dann müsste | |
| man tausende von Orten, die ganz normal in Stadtgesellschaften oder Dörfer | |
| integriert sind, stilllegen und alle ehemaligen KZ-Außenlager, | |
| Kriegsgefangenenlager und Zwangsarbeiterlager zum heiligen Boden erklären. | |
| Theoretisch kann ich das nachvollziehen, ich halte es aber weder für | |
| moralisch geboten noch für praktisch umsetzbar.“ | |
| Bürgermeister Ilg hat nun einen Runden Tisch vorgeschlagen, an dem sich | |
| Doku-Verein, Stadt, Vertreter der Gedenkstättenarbeit sowie Diakoneo | |
| zusammensetzen sollen. Das Heim, so viel zeichnet sich bereits ab, wird | |
| kommen, aber man wird wohl wieder miteinander reden. Zum Beispiel darüber, | |
| wie trotz Bebauung die Erinnerung aufrechterhalten werden kann. Ein | |
| Interesse, das laut Ilg auch der Heimbetreiber verfolgt. | |
| Ein erstes bereinigendes Gespräch zwischen Ilg und Wrensch hat mittlerweile | |
| schon stattgefunden. Dabei wies Wrensch auch daraufhin, dass sich sein | |
| Verein nicht grundsätzlich gegen eine Bebauung stelle. | |
| Anstatt Flächen um jeden Preis freizuhalten, plädiert Jörg Skriebeleit | |
| ohnehin für eine vielfältige Form der Erinnerungskultur, die vor allem den | |
| Diskurs unterstützt. Das könne über Ortschronisten geschehen, über | |
| Kunstinitiativen oder Schülerprojekte. Und das sei viel schwieriger, als | |
| „irgendwelche Tabuzonen zu errichten“. | |
| „Wir dürfen uns nicht auf einem zivilreligiösen Mantra des ‚Nie wieder!‘ | |
| ausruhen“, sagt der Kulturwissenschaftler, „sondern müssen dieses ‚Nie | |
| wieder!‘ ständig neu ins gesellschaftliche Bewusstsein bringen oder aus | |
| diesem herausholen. Sonst ist es nur Geschichte.“ | |
| 28 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.kz-hersbruck-info.de/ | |
| [2] https://www.kz-gedenkstaette-dachau.de/historischer-ort/kz-dachau-1933-1945/ | |
| [3] https://www.br.de/nachrichten/bayern/widerstandskaempfer-und-zeitzeuge-vitt… | |
| [4] https://www.kz-hersbruck-info.de/2021/10/25/respekt-vor-wuerde-und-buerde/ | |
| [5] https://www.stiftung-bayerische-gedenkstaetten.de/ | |
| [6] https://www.gedenkstaette-flossenbuerg.de/de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Dominik Baur | |
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