| # taz.de -- Theaterstück „Die Laborantin“: Im Optimierungswahn | |
| > In Ella Roads „Die Laborantin“ entscheidet das Erbgut über das | |
| > persönliche Vorankommen. Das Staatstheater Oldenburg bringt das Stück die | |
| > Bühne. | |
| Bild: Am Anfang liebes‑glücklich: Laborantin Bea (Zainab Alsawah) und Aaron … | |
| Es ist ein dystopisches Szenario und doch erschreckend gegenwärtig: Eine | |
| Gesellschaft im Optimierungswahn, die mit genetischen Informationen spielt, | |
| ja: dealt, als handelte es sich dabei um gewinnbringende Immobilien. Eine | |
| Menschheit, in der Erbgutabweichungen nicht mehr vorkommen dürfen und in | |
| der die postnatale Abortion – man kann auch [1][Tötung von Neugeborenen] | |
| dazu sagen – eine denkbare Möglichkeit ist. In so einer Zukunft siedelt | |
| Ella Road „Die Laborantin“ an. | |
| Es ist das Debütstück der [2][jungen britischen Autorin], die auch selbst | |
| Schauspielerin ist. Im Jahr 2018 war „Die Laborantin“ für die | |
| Olivier-Awards nominiert und wurde im Hampstead Theatre in London | |
| uraufgeführt. Die deutschsprachige Erstaufführung fand Ende Mai [3][als | |
| Online-Premiere am Schauspiel Dresden] statt. Erstmals auf die analoge | |
| Bühne gebracht hat Regisseurin Jana Polasek das Stück nun am | |
| [4][Oldenburgischen Staatstheater]. | |
| Der Originaltitel „The Phlebotomist“ – Phlebotomie heißt Aderlass – we… | |
| deutlicher darauf hin, dass nicht irgendwelche Labortätigkeiten im Fokus | |
| stehen. Sondern eben jene, die den „ganz besonderen Saft“ untersuchen: | |
| Mittels Blutproben lässt sich das menschliche Erbgut analysieren, sind | |
| nicht nur diagnostische, sondern auch prognostische Gentests möglich. Bea, | |
| die Protagonistin, arbeitet in einer Klinik für Humangenetik. Für deren | |
| Patient*innen wird das Ergebnis des Bluttests als Ranking festgehalten: | |
| auf einer Skala von 1 bis 10. | |
| „Ratism“ nennt Road das Phänomen, das sie in ihrem Stück entscheiden läs… | |
| über das Gelingen von Beziehungen, Karriere und Familienplanung. Denn die | |
| Diagnose Low- oder High-Rater bestimmt den weiteren Lebenslauf. Letztlich | |
| also auch, ob Bea in der [5][Dating-App] überhaupt noch attraktive | |
| Matchings bekommt, einen Hausbau-Kredit bei der Bank – oder ihre Freundin | |
| Char den begehrten, gut bezahlten Job. Eine einzige Zahl entscheidet über | |
| das Weiterkommen im Leben und damit vermeintlich auch über Glück, Liebe und | |
| Erfolg. | |
| Zainab Alsawah verkörpert die Figur der Bea meist beherrscht und | |
| kontrolliert. Als bei Char (Veronique Coubard) nur ein Ranking von 2 | |
| errechnet wird, sie für eine Bewerbung aber ein deutlich höheres braucht, | |
| lässt sich die Laborantin zum Betrug überreden: „Okay, ich hab’ heute | |
| Morgen eine 7,7 getestet – wie wär’s damit?“ Aus ihrem Zugang zu | |
| Reagenzgläsern und Daten erschafft sich Bea bald einen äußerst lukrativen | |
| Nebenjob. Und sie verliebt sie sich in Aaron (Fabian Kulp) – Ranking 8,9. | |
| Für Bea scheint das Leben perfekt. Wären da nicht die flüchtigen Skrupel | |
| und das dünne Gelöbnis, mit den Blut-Deals aufzuhören. Aber wo eine | |
| Nachfrage ist, ist auch ein Markt. | |
| Jana Polasek inszeniert das Drama auf einer puristischen, fast steril | |
| hellen Bühne: Martina Stefan hat einen cremefarbenen Zylinder mit Umlauf | |
| entworfen, der sich auf- und zudrehen lässt wie ein Schraubverschluss. In | |
| seinem Kern findet sich die Andeutung eines Wohnzimmers, davor werden alle | |
| anderen Räume behauptet: eine Bar, ein Labor, ein Krankenhausflur. Immer | |
| wieder werden Live-Videos auf die konvexen Außenflächen der Bühne | |
| projiziert. | |
| So entsteht eine ästhetische Setzung und – trotz der Corona-Abstandsregeln | |
| – spielerische Nähe zwischen den Darsteller*innen. Da ist Aaron in | |
| Großaufnahme ganz nah und präsent, wenn Bea ihm das erste Mal begegnet. Und | |
| da stehen beide schwindelnd auf einem wolkenverhangenen Berggipfel, rennen | |
| an einem heiteren Sommertag über den Strand; oder Aaron flippert zwischen | |
| blinkenden Spielautomaten. | |
| Vor allem Fabian Kulp mit seinen an die Stummfilm-Ära erinnernden, schwarz | |
| umschminkten Augen erscheint oft als riesenhafte Projektion – gerade so, | |
| als wolle die Regisseurin die Lupe draufhalten auf diese Figur, die doch | |
| angeblich die perfekte Partie zu sein scheint. Und tatsächlich birgt dieser | |
| charmante Lebemann genau jene Abgründe, die Beas Leben erschüttern. Sie, | |
| die wissenschaftliche Laborantin, hat ihr Glück nach Zahlen und Ratings | |
| ausgerichtet. Aaron, mit seinem angeblichen Spitzen-Rating, passt da nur zu | |
| gut in ihre Lebensplanung. Als der High-Rater dann als schizophrener | |
| Schwindler auffliegt, ist Bea bereits hochschwanger. „Du bist ein Cocktail | |
| aus Dreck“, fährt sie ihn an. | |
| Das lachende Liebesglück hat sich da schon lange in Luft aufgelöst. Sowieso | |
| hat das Leben für Bea – von Alsawah ein bisschen zu unentschieden zwischen | |
| rational und romantisch angelegt – wenig mit Glück oder Schicksal zu tun, | |
| sondern mit kühler Berechnung. Erst am Ende, als sie zur Rating-Diagnose | |
| ihres Babys aufgerufen wird, bleibt sie minutenlang regungslos sitzen, hin | |
| und her gerissen zwischen Herz und Verstand. | |
| Mit gelungenen Video-Einspielungen, mit flirrenden Zahlen, futuristischen | |
| Forschungsfakten und natürlich auch mit der allzu vertrauten Alexa-Stimme | |
| baut Polasek das Kammerspiel recht distanziert als schnell getaktete | |
| Szenenfolge. Ästhetisch gelingt dabei eine überzeugend kühle Atmosphäre, | |
| auf schauspielerischer und inszenatorischer Ebene wirkt Polasek aber oft | |
| unentschlossen und ungenau, schwankt zwischen psychologischer | |
| Figurenzeichnung und strenger Form. Ruhepol der Inszenierung ist Thomas | |
| Birklein: Als mysteriöse Laborratte verkleidet, tritt er unvermittelt auf | |
| und wieder ab, äußert Weisheiten über die Liebe und das Leben. Ruhig und | |
| wie nebenbei spricht er davon, dass jenes nicht zu makellos, rund und | |
| perfekt sein darf. Er macht das lässig und ganz ohne Moral und gibt gerade | |
| mit dieser kuriosen Unbekümmertheit der Inszenierung etwas inhaltliches | |
| Gewicht. | |
| Denn trotz aller dem Text immanenten Aktualitätsbezüge zu Tests, Impfungen | |
| und Pandemiemaßnahmen, zum viel diskutierten Klassismus oder der ethischen | |
| Verantwortung der Wissenschaft: Der sehr konventionellen Inszenierung | |
| gelingt keine klare Aussage – und leider auch kein Bogen zur Gegenwart. | |
| 15 Jun 2021 | |
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| [1] https://www.sueddeutsche.de/leben/artikel-ueber-kindstoetung-ethiker-forder… | |
| [2] https://rowohlt-theaterverlag.de/tvalias/autor/4693881 | |
| [3] https://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/a-z/die-laborantin/ | |
| [4] https://staatstheater.de/premieren20.21.html | |
| [5] /Dating-App/!t5328748 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Ullmann | |
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