# taz.de -- 2050 – Alles wird gut: Zeitzeugen der Zukunft | |
> Dystopien sind schnell geschrieben. Stattdessen wagen wir einen Blick | |
> zurück auf eine Welt, die 2050 besser geworden sein wird. | |
Bild: Vergangen heute und in Jahrzehnten, Weltkriegswrack am Bikini-Atoll | |
Liebe KinderKinders*,s*, in diesem Jahr werde ich 80 Jahre alt. Dass ich | |
das Jahr 2050 noch erlebe, hätte ich nie erwartet. Nie. Ich hätte es auch | |
nicht erwarten können. Und hier rede ich nicht etwa über Alkohol oder | |
Zigaretten, nicht vom Amalgam in den Zähnen und vom Asbest in den Häusern, | |
nicht vom Schwermetall im Trinkwasser und von Plastikpartikeln im Fisch, | |
nein, ich rede von der Atombombe und von den Auswirkungen der „zivilen | |
Nutzung“ der Atomkraft. Denn spätestens in den 1980er Jahren, zur Zeit | |
meiner Pubertät, wurde der Menschheit klar, dass sie in der Lage war, die | |
gesamte Oberfläche des Planeten für Jahrhunderte atomar zu verseuchen. | |
Ein großer Teil der Menschen glaubte auch, dass genau dies passieren werde, | |
früher oder später, am besten selbstverständlich, wenn sie eh schon tot | |
wären. Die Menschen hatten kein Vertrauen in die Menschen und kein | |
Vertrauen in die Vernunft. Besonders die Menschen im Westen nicht. Sie | |
erwarteten den Tod, wenn nicht für sich, dann für ihre Kinder. | |
Entsprechend benahmen sie sich. Jene, die versuchten, den Atomtod | |
abzuwenden, wurden als Spinners* belächelt. Zudem gab es plötzlich AIDS und | |
nun hieß es, das Ficken sei vorbei, man müsse enthaltsam leben, und ganz | |
viele sogenannte Männer weinten, weil sie Kondome benutzen mussten, so wie | |
sie schon geweint hatten, als die Anschnallpflicht in privaten | |
Verkehrsmitteln kam. Schon damals beklagten sehr viele sogenannte Männer, | |
dass böse Mächte (und Spinners*) versuchten, ihnen die Männlichkeit | |
wegzunehmen, die „biologisch bedingt“ wäre – und als solche allein davon | |
abhängig, dass sie nahe einem Verbrennungsmotor sitzen konnten oder dass | |
sie jene, die sie als „die Frauen“ bezeichneten, begrabschen und demütigen | |
durften. Zugleich hatten viele sogenannte Frauen nicht mal ein Zimmer für | |
sich allein. | |
Ja, KindKinders*,ers*, ihr lacht, doch damals beherrschten solche | |
Meinungen die Medien! Bedenkt bitte, die Menschen dachten auch mal, dass | |
die Erde eine Scheibe sei. Dass Tiere nur dazu da seien, um Menschen zu | |
ernähren. Dass es nur zwei Geschlechter gebe. Ja, sie kannten nur die | |
Personalpronomen „er“, „sie“ und „es“ – von „*“ und „pro“… | |
noch nie gehört. Wirklich! Wenn ich es euch doch sage! Damals hatten die | |
Menschen kein Ich, keines, auf das sie vertrauten, dafür hatten sie viel | |
Ego und viel Egoismus. | |
Denn es begann das Zeitalter des ungehemmten Kapitalismus, der vorher | |
eingehegt war durch die Systemkonkurrenz. Auch wenn die real existierende | |
Sowjetunion nicht taugte als Ideal, so taugte sie doch zur Abschreckung, um | |
jene, die für ihren Profit und ihre Bequemlichkeit andere Leute ohne jeden | |
Gewissensbiss ausbeuten wollten, in Schranken zu halten. Um 1990 fielen | |
diese Schranken weltweit, und es begannen Jahrzehnte des Unglücks. Ronald | |
M. Schernikau sagte damals: „Wir werden uns wieder mit den ganz | |
uninteressanten Fragen zu beschäftigen haben. Etwa: Wie kommt die Scheiße | |
in die Köpfe?“ | |
Und es kam viel Scheiße in die Köpfe. Journalists* plapperten über | |
politische Ereignisse, die sie nicht analysiert hatten, und wiederholten | |
unhinterfragt die Behauptung der Mächtigen, dass man am Ende der Geschichte | |
angelangt sei und dass es zum Kapitalismus keine Alternative gebe. Andere | |
erklärten allen Ernstes, dass es ein Problem sei, wenn Menschen ein Land | |
verlassen, um in einem nächsten zu leben. Ja, sogar die damals wichtigen | |
Religionen wurden benutzt – ihr habt von Religionen, diesen irrationalen | |
Denkschulen, sicher gehört, oder? Na also! Es wurde mithilfe von | |
Religionstexten postuliert, dass man manche Menschen zu ächten oder sogar | |
zu töten habe. Ja, da staunt ihr … Ihr lacht jetzt über mich, doch früher | |
nannte man jene, die gegen diese unmenschlichen Ideen waren, Spinners*! | |
Und damals begann auch die nächste Phase der Sklaverei – die freiwillige | |
und die unfreiwillige Selbstversklavung. Ihr habt sicher mal gehört, dass | |
man Menschen versklaven konnte, indem man ihnen ein bisschen Geld dafür | |
gab, damit sie Dinge taten, die sie nicht tun wollten, und über die es | |
vorher kein Einverständnis gegeben hatte. So wurden Millionen von | |
Arbeitssklavs* gehalten, es gab zuvor zwar schon viele, doch ab der | |
Jahrtausendwende wurde es immer schlimmer – plötzlich gab es überall | |
Putzsklaverei, Sexsklaverei, Pflegesklaverei, Warenbringdienstsklaverei, | |
Programmiersklaverei, Müllentsorgungssklaverei und so weiter. Das | |
Verrückteste war, dass die, die selbst versklavt waren, dachten, sie | |
dürften wiederum andere versklaven. Sie dachten es, da ihnen vermittelt | |
worden war, dass Sklaverei ganz natürlich sei. Und wieder galten alle, die | |
dies zu kritisieren wagten, als Spinners*. | |
Doch Menschen versklavten nicht nur ihre Mitmenschen, sondern auch sich | |
selbst, indem sie sich immerzu für imperfekt hielten, und nun an | |
Selbstoptimierung arbeiteten mithilfe von Produkten. Sie hielten sich nur | |
für einen funktionierenden Körper, in dem es keinen Geist gab. Sie wollten | |
allein, ohne Mitmenschen, unsterblich werden, während sie nichts gegen die | |
Erdzerstörung und somit ihr frühes Ableben unternahmen. Kichert nicht, | |
Kinders*, das war denen damals ganz ernst … Und deshalb drehten alle | |
durch. | |
Waren schon angesichts des drohenden Atomtods so intelligente Menschen wie | |
Heiner Müller verzweifelt und hatten mit dem Satz „Hoffnung ist nur ein | |
Mangel an Information“ all jene verraten, die an einer besseren Zukunft | |
arbeiteten, so gab es jetzt kein Halten mehr. Unterstützt von einer | |
Unterhaltungsindustrie, in der Geschlechtergegensätze und Selbstjustiz | |
gefeiert wurden, befeuert von rückständigen Nationalideen und krausen | |
ökonomischen Ideologien, dominierten die Diskussionen jene, die ihr Ich | |
zugunsten ihres Egoismus abgetötet hatten – und versuchten, Wörter wie | |
Fürsorge, Solidarität, Umweltschutz oder Liebe zu Unwörtern zu erklären. | |
Das alles im Namen einer Freiheit, die man ohne einen Begriff vom eigenen | |
Ich nicht erlangen kann, die also nichts anderes eine Freiheit der Gewalt | |
war. | |
Ich will euch nicht langweilen: Die Menschen im Westen waren um 2020 so | |
angeödet, so müde und so unglücklich, dass sie sterben wollten. Sie | |
beneideten sogar fast ein bisschen die Menschen, die andernorts um ihr | |
nacktes Überleben kämpfen mussten, und verklärten diese zu nur guten oder | |
nur bösen Menschen. Verklärt sollten sie sein, damit sie keine Mitmenschen | |
mehr waren, sondern Objekte fürs eigene Gut- oder Bösesein. Ja, die | |
Westmenschen erhoben sogar die 1920er Jahre des 20. Jahrhunderts zum Ideal, | |
weil sie sich einen „Tanz auf dem Vulkan“ wünschten, den dann | |
Weltwirtschaftskrise, Nazis, Weltkrieg oder eben die Klimakatastrophe | |
beenden sollten, schnell und endgültig. | |
Die, die das nicht wollten, die – ihr ahnt es – also schon wieder Spinners* | |
genannt wurden, wurden von den Mächtigen lächerlich gemacht, verhöhnt, | |
verhaftet oder getötet. Ihr werdet staunen: Das Wort Gutmensch galt damals | |
als Schimpfwort. Fast alle wollten Bösmenschen sein. Ein Bösmensch zu sein, | |
sagten sie, sei „realistisch“. | |
## Nicht Angstlust, sondern Lebensfreude | |
Ihr wisst, diese Verrückten sind schließlich gescheitert. Habt ihr ja in | |
der Schule gelernt. Ja, richtig, um 2025 bekamen die Organisationen der | |
sogenannten Spinners* immer mehr Zulauf. Viele Menschen erinnerten sich | |
daran, dass es anders geht, dass es eine Zukunft gibt. Und daran, dass es | |
diese Zukunft nicht gibt, wenn sie sich nicht für sie einsetzten. Sie | |
hörten daher auf, ihre Egos zu pflegen und kümmerten sich um ihr Ich – und | |
entsprechend auch um euer Ich oder um mein Ich. Das taten sie, weil sie | |
merkten, dass ihr Überleben nicht von Göttern, Kontoständen und | |
Marktstrategien gesichert wird, sondern ganz allein von ihnen und ihren | |
Mitmenschen. | |
Geschlechterdiversität, Biodiversität, Bibliodiversität, all das sind keine | |
Fremdwörter mehr – und ihr seht ja, wie’s gekommen ist: Menschen agieren | |
nicht mehr aus Angstlust heraus, sondern aus Lebensfreude. Plötzlich sind | |
die Menschen nicht mehr Arsch, sondern Kopf. Die Welt ist daher so | |
geworden, wie ihr sie kennt – alle behandeln sich fair, da in der Fairness | |
die Freiheit aller begründet liegt. Und alle wissen, dass das Zusammenleben | |
besser wird, wenn sie nur nach derjenigen Maxime handeln, durch die sie | |
zugleich wollen können, dass sie ein allgemeines Gesetz wird. Sie handeln | |
aus, wie ihre Gesellschaft sein soll. Sie alle haben eine Stimme. Sie alle | |
werden gehört. Sie alle haben zu leben begonnen. Sie konnten zu dieser | |
Revolution tanzen, es war ihre Revolution. | |
Ja, KindKinders*,ers*, wir wissen, es gibt noch so viele Probleme. Aber | |
wir können uns im Jahr 2050 endlich wieder mit den interessanten Fragen | |
beschäftigen. Etwa der, wie die Scheiße aus den Köpfen herausgekommen sein | |
wird. | |
Jörg Sundermeier ist Chef des Berliner Verbrecherverlages und wird dereinst | |
ein unverbesserlicher Optimist* gewesen sein. | |
19 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Jörg Sundermeier | |
## TAGS | |
2050 – die, die überleben wollen | |
Schwerpunkt Utopie nach Corona | |
Diversität | |
Kapitalismus | |
Oldenburg | |
2050 – die, die überleben wollen | |
Winzer | |
Kriminalität | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Theaterstück „Die Laborantin“: Im Optimierungswahn | |
In Ella Roads „Die Laborantin“ entscheidet das Erbgut über das persönliche | |
Vorankommen. Das Staatstheater Oldenburg bringt das Stück die Bühne. | |
2050 – Eine weibliche Utopie: Verlieb dich nicht in die Macht | |
Nach der klimatischen Unumkehrbarkeit existiert die alte Ordnung nicht | |
mehr. Eine Skizze der postfeministischen Revolution. | |
Folgen des Klimawandels: Wenigstens der Wein | |
Winzer beobachten seit Jahren eine Klimaveränderung, die für die nördlichen | |
Anbaugebiete völlig neue Perspektiven eröffnet. Ein Besuch am Rhein. | |
Zukunftsvision für Deutschland: Welt ohne Gefängnisse | |
Wäre die Gesellschaft eine bessere, wenn es keine Gefängnisse gäbe? Und was | |
müsste dafür getan werden, um diese Utopie zu ermöglichen? |