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# taz.de -- PolitikerInnen-Karrieren: Parteiloyale Konformität
> Die Biografien jüngerer PolitikerInnen werden immer gleichförmiger. Das
> ist schädlich für die Demokratie und den Parlamentarismus.
Bild: SPD-Vize Kevin Kühnert mit ParteichefInnen Norbert Walter-Borjans und Sa…
Der Wirbel um Annalena Baerbocks aufgehübschten Lebenslauf hat sich
verzogen. Sollten keine neuen Überraschungen auftauchen, wird sich die
Öffentlichkeit nicht mehr dafür interessieren, ob und wo sie als
Büroleiterin gearbeitet hat und ob [1][sie Vordiplom], ein Jodeldiplom oder
einen Bachelor hat.
Dafür wurde mit Baerbocks Vita ein Typ Lebenslauf ausgeleuchtet, der in der
breiten Öffentlichkeit eher unbekannt ist, jedoch mittlerweile zu einer
Standardversion von Biografien jüngerer PolitikerInnen geworden ist. Man
muss inzwischen sorgfältig nach denen suchen, die je einen anderen Beruf
außerhalb der Politik ausgeübt haben. Die Landeslisten der Parteien für die
Bundestagswahl, die größtenteils beschlossen sind, bestätigen den Trend.
Die typische NachwuchspolitikerInnen-Vita vom Typ Baerbock geht so: Man
studiert Politikwissenschaft oder seltener, weil aufreibender und
risikoreicher, Jura. Nach einem frühen Eintritt in die Partei engagiert
sich der ambitionierte Nachwuchs im Ortsverband, lässt sich in lokale
Parteiämter wählen.
Manche sitzen kurze Zeit später im Kommunalparlament. Es folgen, oft schon
während des Studiums, einige Jahre als Mitarbeiter eines Abgeordneten.
Dieser Job ist die entscheidende Karrierestation. Hier lernen sie, wie
Politik in der Praxis funktioniert und können sich vom Chef oder der Chefin
die Methoden und auch die Tricks abschauen, die man beherrschen muss, um in
der eigenen Partei voranzukommen.
Genauso wichtig ist eine entscheidende Ressource für den politischen
Nachwuchs, der in anderen Berufen fehlt: Zeit und Gelegenheit. Eine
Kleinunternehmerin kann nicht einfach eine Stunde von der eigenen
Arbeitszeit abzwacken, um die abendliche Ortsverbandsitzung vorzubereiten,
ein Fließbandarbeiter kann den Schichtleiter nicht bitten, mal eben das
Band anzuhalten, weil er am Telefon Stimmen für seinen Antrag im Ortsverein
organisieren muss.
Der Abgeordnetenmitarbeiter kann das alles tun, und der eigene Chef drückt
meist ein Auge zu: Man ist Mitglied in derselben Partei, oft sitzt man in
denselben Parteigremien, wenn man aus der gleichen Region stammt.
Innerhalb des Politikbetriebs wird die Gleichförmigkeit von
Nachwuchsbiografien eher achselzuckend hingenommen. Politik sei eben immer
komplizierter geworden, heißt es, die oft kleinteiligen Fallstricke könnten
nur diejenigen beherrschen, die schon vorher in eine Art Lehre bei einem
Berufspolitiker gegangen sind. Dabei ist die Tendenz, dass die Politik
ihren Nachwuchs zunehmend aus sich selbst heraus rekrutiert, kein
Naturgesetz, sondern wurde kräftig gefördert durch immer günstigere
Rahmenbedingungen.
[2][Die Mitarbeiterpauschale für einen Bundestagsabgeordneten hat sich in
den vergangenen 15 Jahren verdoppelt.] In den meisten Bundesländern ist die
Tendenz ähnlich. Ein Parlamentarier kann daher mehr Personal einstellen als
früher. Inzwischen dienen die Fraktionen de facto als Trainee-Stelle für
den Parteiennachwuchs, obwohl sie finanziell und rechtlich doch getrennt
von den Parteien sind.
Für das reibungslose Funktionieren der Politikmaschinerie mag es dienlich
sein, wenn NachwuchspolitikerInnen das Handwerk bereits gelernt haben, für
die Demokratie ist es aber schädlich, aus drei Gründen. Politik lebt
erstens existentiell davon, dass verschiedene Lebenserfahrungen bei ihr
einfließen.
Eine ehemalige Krankenpflegerin hätte im Bundestag schon vor Jahren auf die
dramatische Lage in der Pflege aufmerksam machen können. Der Typus des
Intellektuellen wiederum – eine ebenfalls rare Spezies in den Parlamenten
– könnte auf die Widersprüche von gut gemeinten Gesetzesvorhaben hinweisen,
die oftmals unbeabsichtigte Nebenwirkungen oder neue Ungerechtigkeiten nach
sich ziehen.
Zweitens eint den Standardkarriere-Nachwuchs eine hohe Neigung zur
Konformität. Als Abgeordnetenmitarbeiter geht es darum, still und effizient
zuzuarbeiten; feurige Ideen werden von ihnen nicht erwartet. Sie haben
gelernt, die Erwartungen der Partei zu antizipieren, in der Partei heikle
Themen meiden sie vorbeugend.
Die parteiloyale Konformität, mit der sie sozialisiert wurden, erstickt
Originalität und Gedankenfreiheit. Und weil ihnen das Sicherheitsnetz einer
Berufsausbildung fehlt, steigert sich die Konformität mit den Jahren. Je
älter sie werden, desto schwieriger ist ein Neustart in einem anderen
Beruf, wenn sie in der Politik scheitern sollten.
Also geht es ihnen darum, eine Legislaturperiode ohne größere Blessuren zu
überstehen, um für die nächste Wahl einen aussichtsreichen Listenplatz zu
bekommen. Schließlich eint den Politiknachwuchs neuen Typs ein
technokratisches Verständnis von Politik. Politik wird verstanden als
Aneinanderreihung von Spiegelstrich-Forderungen, die in Gesetze gegossen
werden sollen. Je mehr Gesetze oder „Projekte“ die eigene Fraktion
umgesetzt hat, desto höher wird der Erfolg bemessen. Was oft fehlt, sind
übergeordnete Leitideen von gesellschaftlichen Zielen jenseits der gerade
angesagten Parteifloskeln.
Was tun? So leicht werden sich [3][die Rekrutierungsmechanismen] nicht
ändern lassen. Beispiel SPD und Linkspartei: Gerade weil die beiden
Parteien wegen schrumpfender Wahlergebnisse immer weniger Mandate zu
verteilen haben, hat sich bei ihnen das Prinzip closed shop durchgesetzt.
Die weniger werdenden Mandate werden unter denen verteilt, die bereits Teil
des Apparats sind.
Die optimistische Wendung ist: Irgendwann wird der Handlungsdruck so stark
sein, dass die Parteien ihre Personalpolitik überdenken. Denn die Beispiele
Linkspartei und SPD zeigen eindrücklich: Entkoppelt sich eine Partei
personell zu stark von den sozialen Milieus, die sie einst stark machten,
bekommen sie an der Wahlurne die Rechnung dafür präsentiert.
22 Jun 2021
## LINKS
[1] https://www.tagesschau.de/faktenfinder/baerbock-lebenslauf-101.html
[2] https://www.bundestag.de/resource/blob/272532/74a50f14622f33ab9ae3f9957e3a1…
[3] https://www.bundestag.de/resource/blob/413720/28b92cbb19def0cffac26bb06f3c7…
## AUTOREN
Gunnar Hinck
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