# taz.de -- Fremdeln mit der Fußball-EM: Wie ansteckend ist der Fußball? | |
> Die Fußball-EM in 11 Großstädten trägt das Label „paneuropäisch“. Wa… | |
> verbindende Idee gedacht ist, wirkt durch Corona aber arg überholt. | |
Bild: Volle Ballkontrolle: Statue von Fußballlegende Booby Moore vor dem EM-St… | |
In den vergangenen Monaten wurde dann auch viel nachgedacht über das | |
Regionale und Kleine, über eine Detox-Bewegung und Umbrüche, die nun | |
unabdingbar seien. Die virulenten Themen sind unter anderem: | |
Selbstbeschränkung, Verzicht und vorausschauende Verantwortungsübernahme. | |
Corona ist hierbei der Transmissionsriemen für allerhand Gedankenspiele in | |
den sogenannten progressiven Kreisen. | |
Wie passt nun die Fußball-Europameisterschaft in diesen Diskurs über | |
Veränderung hinein? Im Grunde gar nicht. Die Euro liegt wie ein Findling in | |
der diskursiven Landschaft herum. Sie ist nicht nur schwer zu handhaben, | |
sie verweist auch auf eine Vergangenheit, die irgendwie fern scheint. Was | |
also anfangen mit diesem Klotz, äh, Event? Einfach plump hedonistisch | |
genießen, das Ding, nach einer Zeit der Entbehrung oder doch einordnen in | |
das Big Picture, das gerade in der Szene der urbanen Elite mit | |
schwungvollen Strichen gezeichnet wird? | |
[1][Diese Europameisterschaft] trug immer das Label paneuropäisch, und vor | |
ein paar Jahren konnte man damit noch gut Werbung in eigener Sache machen: | |
Wir halten den europäischen Gedanken hoch! Wir verbinden einen Kontinent! | |
Wir eröffnen Chancen auch für kleine Nationen! Marketingprofis mussten | |
nicht lange nachdenken, um eine paneuropäische Europameisterschaft [2][60 | |
Jahre nach der Premiere des Wettbewerbs] als ziemlich gute Idee zu | |
verkaufen. | |
Wer hat schon etwas gegen ein Europa, in dem der Ball rollt? Eben. Aber | |
schon damals, als die Idee vom europäischen Fußballverband Uefa und | |
speziell von seinem [3][Präsidenten Michel Platini] ersonnen wurde, ging es | |
nicht vordergründig um das Wohl des Fußballs und seiner Fans. Man wollte | |
wachsen, größer werden, schlechterdings mehr Geld verdienen und expansiv | |
neue, auch kleinere Märkte erobern – der gute, alte Kapitalismus also, der | |
eh wie Weidelgras im Stadion grünt. | |
Der Fußball ist nun einmal eine Branche, die Grenzen sprengt, jedes Jahr | |
aufs Neue: Die Fernsehverträge werden voluminöser, die Ablösesummen | |
schießen in die Höhe, und die Teilnehmerfelder von Fußballevents wachsen | |
wie Bambus im Frühjahr – selbst nach dieser Coronasache, die dem Projekt | |
Europa durch Reisebeschränkungen, geschlossene Grenzen und ein vergurktes | |
EU-Impfhandling eher geschadet hat; jedenfalls ist plötzlich das | |
Nationalstaatliche mehr in den Fokus gerückt – was im Übrigen ein Kernstück | |
solcher Sportgroßveranstaltungen ist. | |
Vor fünf Jahren, 2016, wurde das Feld der Europameisterschaft von 16 auf 24 | |
Mannschaften aufgebläht. Das fanden [4][viele von den großen | |
Fußballverbänden in Europa] überflüssig, Fifa-Chef Gianni Infantino aber | |
gab die Richtung vor: „Es gibt kein Limit für Dinge, die gut für den | |
Fußball sind“, sagte der frühere Uefa-Generalsekretär und schwärmte | |
geradezu von der Ausweitung der Euro auf 24 Mannschaften. Die Entscheidung | |
habe in vielen Ländern Enthusiasmus ausgelöst. „Wir müssen realisieren, | |
dass solche Events mehr als Wettbewerbe sind. Sie sind soziale | |
Veranstaltungen in der ganzen Welt.“ Dieser Art der fußballerischen | |
Philanthropie war noch nie zu trauen. Sie dient in den meisten Fällen dazu, | |
echte Interessen zu maskieren. | |
## Sportpolitische Notlösung | |
„Es ist nur eine Idee, aber mir gefällt dieser Gedanke“, hatte Platini 2012 | |
gesagt, als er seinen Vorschlag für das paneuropäische Turnier machte. „Wir | |
bringen die EM vor die Haustüren. Normalerweise müssen die Fans lange | |
reisen, um eine EM zu sehen, jetzt bringen wir ihnen die EM vor die | |
Haustür, und das in fast ganz Europa“, argumentierte der schon vor Jahren | |
über Skandale gestürzte Funktionär aus Frankreich. Was Michel Platini nicht | |
sagte: Die als politische Einigungsinitiative verkaufte Multi-Gastgeber-EM | |
war eine sportpolitische Notlösung. Als ernsthafte Kandidaten hatten sich | |
nur Irland, Schottland und Wales sowie Aserbaidschan und Georgien | |
angeboten. Die Türkei wollte auch irgendwie. | |
Das waren aber offensichtlich keine seriösen Alternativen für ein | |
24-Teilnehmer-Turnier. Und dass es sich in der Platini’schen Uefa-Rhetorik | |
um eine Europameisterschaft der kurzen Wege handeln sollte, ist sowieso | |
Unsinn, denn Mannschaften und Fans jetten jetzt ja wie wild auf dem | |
Kontinent herum, blasen Tonnen von Kohlendioxid in die Luft, und nur die | |
noch immer geltenden Coronabeschränkungen verhindern, dass dieses Turnier | |
mit der schlechtesten Umwelt- und Klimabilanz in die Geschichte des | |
Ballsports eingeht. Die aktuelle Frage „Wie können wir groß im Kleinen sein | |
oder klein im Großen?“ beantwortet die Euro quasi brachial: „Wir sind groß | |
im Großen?“ | |
Das hat wohl auch der aktuelle Präsident der Uefa, der Slowene Aleksander | |
Čeferin, irgendwann begriffen. Er sagte: „Ich würde es (so eine Vergabe; d. | |
Red.) nicht wieder tun. Es schafft Probleme für uns. Nach der EM 2020, die | |
13 Länder gemeinsam austragen, ist es notwendig, die nächste EM in einem | |
Land zu haben.“ Der Slowene verwies auf unterschiedliche Gesetzgebungen in | |
den Ausrichterländern, zudem habe auch nicht jedes Land den Euro als | |
Währung. | |
„Schöner Gedanke, Europa symbolisch zu vereinen. Aber es ist kein Modell | |
für die Zukunft“, dekretierte Čeferin und machte damit übrigens den Weg | |
frei für die Deutschen, die 2024 die EM ausrichten dürfen. Damit das | |
klappt, vermieden die bei der Vergabe im „Sinne der Einvernehmlichkeit“ | |
eine Kampfabstimmung um die 2020er-Finals mit London – so funktionieren | |
Deals auf der Ebene der Sportpolitik. | |
Wenn Čeferin von 13 Orten gesprochen hat, dann ist das mittlerweile | |
überholt. In 11 Städten wird es vom 11. Juni bis zum 11. Juli 51 EM-Spiele | |
geben. Beworben hatten sich anfangs sogar 19 Städte, und die Uefa wird drei | |
Kreuze machen, dass Minsk nicht in die engere Wahl kam. | |
Los geht es am Freitag in Rom mit dem Spiel der Italiener gegen die Türken. | |
Zugelassen sind 16.000 Zuschauer, sie stehen symbolisch für eine Rückkehr | |
zu einer noch immer fragilen Normalität. Und so verwundert es auch nicht, | |
dass viele Fußballfans noch fremdeln mit diesem Turnier, dessen Nektar sie | |
sonst begierig aufsaugen. Auszumachen ist eine gewisse Zurückhaltung. Die | |
Unersättlichkeit, ja Gier, mit der sich viele Fans auf vergangene Turniere | |
gestürzt haben, die scheint diesmal zu fehlen. Noch. | |
Selbst der Enthusiasmus der Kleinen, die früher mit Feuereifer | |
Panini-Bildchen sammelten, ist ein wenig erloschen. Die Fußballfreunde in | |
Europa, deren Prioritäten in den vergangenen Monaten wohl leicht verrutscht | |
sind, müssen sich erst wieder infizieren – mit dem Fußballvirus aus einem | |
Labor in Nyon (dem Sitz der Uefa). Das wird irgendwann passieren, so viel | |
ist sicher. Asymptomatisch dürften die wenigsten bleiben. | |
Der R-Wert wird wohl schon nächste Woche über 2 steigen. Auch die Symptome | |
sind bekannt: spitze Schreie, Lallen, Skandieren – und neunmalklug über | |
Trainer und Taktik daherreden. So eine Pandemie ist immerhin auszuhalten. | |
11 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2298/umfrage/ewige-em-tabell… | |
[2] https://www.uefa.com/news/026a-127e053603e3-2fc9f1c9fdbc-1000--how-the-euro… | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Platini | |
[4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/76424/umfrage/gewonnene-tite… | |
## AUTOREN | |
Markus Völker | |
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