# taz.de -- Interview mit Umwelthistorikerin: „Man sprach vom Miasma“ | |
> Hippokrates, kohlenstaubverschmutzte Wäsche und die Entdeckung des | |
> Sauerstoffs: Ein Gespräch über das Bewusstsein für Luft und deren | |
> Verschmutzung. | |
Bild: Rauchende Schlote, verschmutzte Luft: London, 1939 | |
taz am wochenende: Frau Arndt, als Umwelthistorikerin beschäftigen Sie sich | |
damit, wie sich die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur in der | |
Vergangenheit verändert haben. Welche Rolle spielt da die Luft? | |
Melanie Arndt: Die Luft begegnet uns Umwelthistorikerinnen vor allem in | |
einer problematischen Weise, nämlich als Luftverschmutzung, ihre Ursachen | |
und Folgen. | |
Wann haben Menschen bemerkt, dass es Luft gibt und sie lebensnotwendig ist? | |
Im Grunde wissen die Menschen das schon seit der Antike. Hippokrates, der | |
als Erfinder der Medizin gilt, sprach bereits von der Bedeutung der Luft | |
für das menschliche Wohlbefinden, ohne aber genau die Prozesse bestimmen zu | |
können, die es dafür braucht. Um 1700 setzte sich dann der italienische | |
Arzt [1][Bernardino Ramazzini] mit den Vorgängen im Körper auseinander. Er | |
entdeckte zahlreiche Asthmaformen bei Arbeitern, die viel Staub ausgesetzt | |
waren. Sauerstoff wurde aber erst Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt und | |
seine Bedeutung für die Atmung noch später. Es hat also lange gedauert, bis | |
man Luft chemisch oder biologisch erklären konnte, aber die Ahnung, dass | |
Luft sehr, sehr wichtig ist und es gute, saubere und schlechte, | |
krankmachende Luft gibt – die hat es wohl immer gegeben. | |
Woher kam diese Ahnung? | |
Die Menschen machten viel an Gerüchen fest. Mitte des 19. Jahrhunderts | |
sprach man zum Beispiel vom Miasma. Heute würde man sagen: alles, was nicht | |
gut riecht, Faulgase, Müll, die Ausdünstungen erster Kanalsysteme. Diesem | |
Miasma schrieb man zu, Krankheiten auszulösen, ohne dass man es erklären | |
konnte. Es gab aber auch Phasen, in denen man schlechte Luft nicht als | |
gesundheitliches, sondern als ästhetisches Problem wahrnahm: dass sich beim | |
Heizen klebriger schwarzer Ruß an den Wänden festsetzte und die Bettwäsche | |
beim Aufhängen dunkel färbte. | |
Warum verschmutzte man die Luft trotzdem so sehr? | |
Das hängt natürlich viel mit dem Wunsch nach wirtschaftlichem Wachstum | |
zusammen. So richtig begann die Luftverschmutzung mit der | |
Industrialisierung im späten 18. Jahrhundert, besonders stark war sie aber | |
im 19. Jahrhundert, als immer mehr mit Kohle geheizt und befeuert wurde – | |
nicht nur die Wohnungen, auch die Dampfkessel der Lokomotiven und Fabriken. | |
Die Folgen davon nahm man allerdings nicht sofort als Problem wahr. Es gab | |
Zeiten, in denen man Zeichnungen von Städten mit Schornsteinen, aus denen | |
schwarzer Rauch aufstieg, schön fand, weil sie den Fortschritt abbildeten. | |
Wann änderte sich das? | |
Schon 1661 schrieb der englische Architekt John Evelyn eine der ersten | |
Schriften zu Luftverschmutzung: das „[2][Fumifugium]“. Darin prangerte er | |
an, dass der Rauch in London krank mache. London war auch anschließend | |
stark von der Verschmutzung betroffen, weil mit der Industrialisierung auch | |
die Urbanisierung voranschritt. Um 1900 lebten in London 6,5 Millionen | |
Menschen, die alle Feuerstellen hatten, hinzu kamen die industriellen Öfen. | |
Man registrierte zwar schon ungewöhnliche Sterbefälle und | |
Lungenkrankheiten, aber man konnte den Zusammenhang noch nicht nachweisen. | |
1905 kam es dann zur Bildung eines extremen Smogs. Auf den großen Straßen | |
Londons musste man Laternen aufstellen, weil es tagsüber dunkel blieb, da | |
war allen klar, dass das nicht gut ist. | |
Und dann tat man was dagegen? | |
Bereits im 19. Jahrhundert baute man die Schornsteine höher, setzte Filter | |
ein, erforschte die Verbrennungsprozesse und verhängte Strafen bei | |
Missachtung der Vorgaben. Der Wunsch nach Fortschritt und Wachstum überwog | |
allerdings. Und je wichtiger das Wachstum wurde, desto einflussreicher | |
wurde die Lobby der Industrie. Die notwendigen Schutzmaßnahmen waren in der | |
Regel teurer als die Bußen, die man zahlen musste, wenn man die Schadstoffe | |
ungefiltert in die Luft ließ. | |
Kommt mir bekannt vor. | |
Es ist aber zu einfach zu sagen, allein die „böse“ Wirtschaft sei schuld. | |
Sie wird auch von uns als Gesellschaft getragen, einer Gesellschaft, die | |
Komfort haben will. Man reagierte zum Beispiel erst sehr spät darauf, dass | |
Autoabgase schädlich sind. Zum einen weil die Autoindustrie von sich aus | |
wenig an der Erforschung und Publikmachung möglicher schädlicher Folgen | |
interessiert war, aber natürlich auch, weil die Menschen gerne mit dem Auto | |
durch die Gegend fahren wollten. Ähnliches trifft auf den Tabakrauch zu, | |
wobei es hier schon ein sehr starkes Bemühen der Unternehmen gab, Rauchen | |
als unproblematisch für die Gesundheit erscheinen zu lassen. Oder die | |
Heizungen, die immer noch die meisten Emissionen produzieren, was den | |
Haushalt angeht. | |
Wie hat sich das Verhältnis von Mensch und Luft trotzdem verbessert? | |
Durch die nationalen und internationalen Vereinbarungen, die in vielen | |
Ländern der Welt – allen voran in Deutschland, Westeuropa und den USA – zu | |
einer Verbesserung führten. Es gibt allerdings immer noch Regionen auf der | |
Welt, in denen Luftverschmutzung ein großes Problem ist, teils wegen | |
heftiger Industrialisierungsprozesse, teils weil autoritäre Regimes keinen | |
Wert auf Umweltschutz legen. Die Gesetzgebung, die in den 1980er Jahren in | |
der Bundesrepublik beschlossen wurde, hatte viel mit der Veränderung der | |
Gesellschaft zu tun: die wachsende Umweltbewegung der 1970er, die | |
Anti-Atomkraft-Proteste, der stark diskutierte Bericht von den Grenzen des | |
Wachstums 1972. Der Druck war enorm. Eine Regierung, die weiter regieren | |
wollte, konnte es sich kaum leisten, nicht darauf zu reagieren. Zumindest | |
offiziell. Was davon umgesetzt wurde, steht auf einem anderen Blatt. | |
Halten Sie es für möglich, dass die Luft den Menschen auch wieder egaler | |
wird? | |
Ich wollte eigentlich sagen, dass es schwierig ist, hinter die Standards | |
zurückzufallen, die wir einmal gesetzt haben. Gleichzeitig haben wir | |
beispielsweise in den USA unter Donald Trump gesehen, dass es durchaus | |
möglich ist, Rückschritte zu machen. Ich glaube aber, dass das Wissen um | |
Luft und Umwelt in der Gesellschaft inzwischen tatsächlich viel zu sehr | |
verankert ist, als dass es komplett verdrängt werden könnte. | |
12 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Bernardino_Ramazzini | |
[2] https://www.deutschlandfunk.de/fumifugium-vor-360-jahren-eine-der-frueheste… | |
## AUTOREN | |
Stella Schalamon | |
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