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# taz.de -- Vor der Bundestagswahl: Starker Ostwind
> Nur 15 Prozent der Wahlberechtigten kommen aus dem Osten. Ihr Einfluss
> auf die gesamtdeutschen Kräfteverhältnisse geht jedoch über diese Zahl
> hinaus.
Bild: Starker Wind aus dem Osten: Hier werden die Wahlen nicht gewonnen, könne…
Die Polarisierung zwischen dem Ministerpräsidenten und der AfD hat in
Sachsen-Anhalt zu einem [1][großen und einem kleinen Sieger] geführt. Alle
anderen Parteien wurden verzwergt. Auf die Frage, was man von
Sachsen-Anhalt für die Bundestagswahl lernen könne, antwortete
Ministerpräsident Reiner Haseloff: Im Osten werden zwar keine
Bundestagswahlen gewonnen, aber verlieren kann man sie dort.
Der Anteil der ostdeutschen Wahlberechtigten an der gesamtdeutschen
Wählerschaft beträgt etwa 15 Prozent. Doch der Einfluss der Ostdeutschen
ist größer als diese Zahl. Der „Ostwind“ ist für die Dynamik des
gesamtdeutschen Parteienwettbewerbs wichtig. Es sind insbesondere vier
spezifisch ostdeutsche Entwicklungen, die schon in der Vergangenheit das
gesamtdeutsche Wettbewerbs- und Parteiensystem wesentlich beeinflussten.
Erstens durch die Einheit selbst. Im Jahr 1989 war die CDU schon auf dem
Weg in die Opposition. Doch das ostdeutsche Plebiszit für einen schnellen
Anschluss machte die Union unter Helmut Kohl zur Kraft der Stunde, die den
„Mantel der Geschichte“ ergriff und aus dem Kanzleramt gestaltete. Mit dem
Versprechen der „blühenden Landschaften“ konnte sie den Weg in die
Opposition für acht weitere Jahre abwenden.
Durch den Institutionentransfer aus dem Westen, der weder die
Reformbedürftigkeit der westdeutschen Institutionen berücksichtigte noch
eine Sensibilität dafür entwickelte, wie mit den soziokulturellen
Bedingungen im neuen Anwendungsgebiet umzugehen sei, glich der Prozess
einem spektakulären, blindflugartigen Hauruckverfahren, also einer
Schocktherapie. Dies schlägt sich in einem weiterhin schwächer
ausgebildeten Vertrauen in Institutionen nieder. Es liegt im Osten
Deutschlands etwa 5 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt.
## Hegemonie der Union
Zweitens wurde die Zerrissenheit des progressiven Lagers durch die Gründung
der PDS mit einem weiteren Wettbewerber ohne Koalitionsoption belastet. Die
Linkspartei versuchte als „Regionalpartei Ost“ die ostdeutschen Interessen
im Parteienwettbewerb stärker hörbar zu machen. Doch durch ihre
Koalitionsunfähigkeit trug sie wesentlich dazu bei, die Hegemonie der Union
trotz einer Mehrheit des progressiven Lagers im Bund zu zementieren.
Drittens ist der Weg der Grünen zur Regierungspartei in doppelter Weise mit
Ostdeutschland verbunden. Einst hatten die ostdeutschen Bündnis-90-Akteure
maßgeblichen Anteil daran, den pragmatischen Weg der Grünen als Joschka
Fischers fleißige Helferinnen zu flankieren. Jetzt ist es zu einer
zentralen Funktion der Linken geworden, die zentristische Position der
Grünen zu stabilisieren. Jene, denen die Grünen zu milde geworden sind,
bietet die Linkspartei eine neue Heimat. Das stärkt den Mittekurs der
Grünen und fördert deren Akzeptanz im bürgerlichen Lager.
Viertens ist Ostdeutschland seit 1990 die Hoffnungsbastion des Populismus;
vor allem rechter Couleur in Form der AfD. Bis auf die PDS waren alle
anderen Parteien zu sehr mit dem westdeutschen Verfassungspatriotismus
verflochten, um als emotional verankertes Sprachrohr des Ostens gegenüber
dem politischen Zentrum in Berlin zu agieren.
In den letzten Jahren konnte insbesondere der Rechtspopulismus in Form der
AfD von einem hohen Wählerpotenzial in den neuen Bundesländern zehren. Die
[2][AfD-Protestkultur] inszeniert sich als Sprecher des ländlichen Raumes
und der Politikfernen. Hinzu kommt, dass im Osten eine starke Brandmauer
zwischen der Union und der AfD gegenwärtig nur um den Preis zu haben ist,
dass die anderen Parteien verzwergt werden.
## Eigener Blick auf den Osten
Nun ist eine eindimensionale Gegenüberstellung von Ost- und Westdeutschland
längst überholt. Zugleich ist ein eigener Blick auf den Osten existenziell,
um die Dynamik des Parteienwettbewerbs in Gesamtdeutschland zu verstehen.
Für manche Bereiche haben wir es sogar mit einem peripheriegetriebenen
Wandel zu tun. Denn die Lage im Osten war, ist und wird aufs Ganze
betrachtet anders als im Westen bleiben. Die Ursachen dafür sind
mannigfaltig.
Gängig sind die Erklärungen der zweifachen Diktaturerfahrung, der
Transformation und einer spezifisch ostdeutschen Mentalität. Etwas aus der
Mode gekommen sind die sozioökonomischen Disparitäten: Während das
durchschnittliche Vermögen in Westdeutschland rund 200.000 Euro beträgt,
liegt es im Osten bei unter 70.000 Euro. Die Arbeitslosenquote betrug 2018
im Osten des Landes 6,9 gegenüber 4,8 Prozent im Westen. Der
Niedriglohnsektor liegt bei fast 40 Prozent aller Beschäftigten, im Westen
sind es dagegen nur 20 Prozent.
Es fehlt an Betrieben mit Forschung und Entwicklung, an komplexen Jobs. Ein
solcher Blick auf die Entwicklungen in Ost- wie in Westdeutschland ist
essenziell, um politische Hausaufgaben zu identifizieren. Eine einseitige
und verkürzte Perspektive, die in der öffentlichen Sphäre zu Zuschreibungen
wie „brauner Osten“, „zivilgesellschaftliches Diasporaland“ führt oder
allgemein den „Nachzügler“-Stempel vergibt, verkennt die besonderen
Entwicklungen des gesamtdeutschen politischen Systems und der
Parteienlandschaft, die auch in Ostdeutschland ihren Ausgangspunkt haben.
Fünfzehn Wochen vor der Bundestagswahl kann sich über die Hälfte der
ostdeutschen Bevölkerung weder mit Annalena Baerbock, Olaf Scholz oder
Armin Laschet als zukünftigem Regierungsoberhaupt identifizieren. Es mag
bei einem Wähleranteil von rund 15 Prozent nicht unmittelbar
wahlentscheidend sein, das eigene Fähnchen entsprechend dem „ostdeutschen“
Wind auszurichten.
Gleichwohl zeigt sich mit Blick auf die vier beschriebenen Entwicklungen,
dass eine Sensibilität für die ostdeutschen Dynamiken existenziell ist,
weil sie richtungsweisend sein können. Denn im Osten werden die Wahlen
nicht gewonnen, sie können dort aber verloren werden.
8 Jun 2021
## LINKS
[1] /CDU-gewinnt-die-Wahl-in-Sachsen-Anhalt/!5776033
[2] /Die-AfD-und-ihr-Normalitaetsbegriff/!5771233
## AUTOREN
Wolfgang Schroeder
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