Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Gewalttaten in Deutschland: Die Frage des politischen Motivs
> In Thüringen ist ein 52-Jähriger von zwei Männern als Pädophiler
> bezeichnet und umgebracht worden. Über die Schwierigkeit, solche Taten zu
> bestimmen.
Bild: Die Justiz mochte bei der Tat keinen homophoben Hintergrund erkennen
Harald Tscherner wird plastisch. „Wie ein Stück rohes Fleisch“ sei Mario K.
misshandelt worden, sagt der Richter. „Er wurde kaputtgetreten,
kaputtgeschlagen.“ Mit ungeheurer Wucht hätten die beiden Angeklagten immer
wieder auf den 52-Jährigen eingeprügelt, ihm eine ganze Zahnreihe
ausgetreten, Rippenbrüche, einen Schädelbruch und schließlich einen
Halswirbelbruch verpasst, der zur Atemlähmung führte. Und selbst dann habe
einer der Angeklagten, Sven N., nicht aufgehört, sondern noch ein Messer
geholt und versucht, Mario K. die Kehle durchzuschneiden. Das misslang.
Aber das Opfer war schon zuvor tödlich verletzt.
Die beiden Angeklagten, Sven N. und Tony S. – 19 und 24 Jahre alt, kurze
Haare, kräftige Oberarme – lassen die Ausführungen des Richters am
Montagmittag im Saal 103 des Landgerichts Gera regungslos an sich
vorüberziehen. In ihren letzten Worten hatten sie noch in kurzen Sätzen
beteuert, die Tat tue ihnen leid, sie würden sie gerne rückgängig machen.
Der Staatsanwalt vermochte dagegen keine aufrichtige Reue erkennen.
Nun, beim Urteilsspruch, starren die beiden Männer nur noch vor sich hin,
den Blick weggewendet vom Richter. Der verurteilt Sven N. und Tony S. zu
Haftstrafen von acht sowie sechs Jahren und vier Monaten. Mario K. sei mit
einer „unwahrscheinlichen Kaltblütigkeit“ umgebracht worden, sagt
Tscherner. Gerade bei dem Haupttäter Sven N. blicke man „in Abgründe“.
Aber war das alles nur brutale und sinnlose Gewalt? Hatten die Verurteilten
ihr Opfer nicht auch als „Kinderficker“ geschmäht und ihm einen Denkzettel
verpassen wollen? Sympathisierte nicht zumindest einer der Angeklagten auch
mit rechtem Gedankengut? Gab es vielleicht auch ein politisches Motiv?
Hierzu sagt Richter Harald Tscherner nichts.
Franz Zobel hätte sich das anders gewünscht. „Für uns liegt ein politisches
Motiv bei dieser Tat auf der Hand“, sagt der Projektkoordinator des
Thüringer Vereins [1][ezra], der Opfer rechtsradikaler Gewalttaten betreut.
„Die Opferauswahl, die Tatbegehung und die rechte Einstellung eines Täters
spricht klar dafür, dass die Angreifer schwulenfeindlich handelten. Und so
eine Tat zielt immer auch auf eine ganze Gruppe, hier Homosexuelle. Das
nicht zu benennen, ist erschreckend und macht diesen Hass unsichtbar.“
Für ezra und andere Verbände ist der Fall Mario K. – neben den neun
Todesopfern des Hanauer Anschlags – bundesweit der einzige rechtsradikal
motivierte Tötungsfall im vergangenen Jahr. Außerdem gab es die tödliche
[2][Messerattacke eines Islamisten] auf einen Homosexuellen in Dresden.
Die Sicherheitsbehörden sehen den Fall Mario K. dagegen nicht so klar und
ordnen ihn bisher nicht als politisch motiviert ein. Im Thüringer
Innenministerium verweist man auf die Einschätzung der zuständigen
Staatsanwaltschaft Gera, die ein solches Motiv nicht als erwiesen
betrachtet. Es ist nicht das erste Mal, dass Behörden und Opferverbände bei
der Einordnung einer Tat auseinanderliegen. Die Verbände sehen darin ein
Problem.
## Elf Tage tot in der Wohnung gelegen
Im Fall Mario K. hatte die Polizei die malträtierte Leiche am 23. Februar
2020 in dessen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in der thüringischen
Kreisstadt Altenburg gefunden. Elf Tage lang hatte sie dort bereits
gelegen. Die Täter hatten ihr Opfer dort überfallen und waren danach
einfach gegangen.
Viel bekannt ist zu Mario K. nicht: 52 Jahre wurde er alt, er war
erwerbslos, einigen galt er offenbar als Sonderling. Seine Biografie sei im
Prozess „untergegangen“, sagt am Ende auch Richter Tscherner. Eine
Nebenklage von Familienmitgliedern gab es nicht. Bei der Urteilsverkündung
sitzen zwei Angehörige unter den Zuhörern. Mit Medien sprechen wollen sie
nicht.
Ausgeleuchet wurden in dem Prozess dagegen die beiden Angeklagten Sven N.
und Tony S., zwei Freunde. Beide kommen aus schwierigen Elternhäusern,
beide sind erwerbslos. Tony S. hat ein Drogen- und Alkoholproblem, ist
vorbestraft wegen Drogendelikten und einer Körperverletzung. Auch Sven N.
neigt zur Gewalt, er boxt, brach Ausbildungen ab, half manchmal in einem
Jugendcafé aus. Zeugen nannten ihn rechts eingestellt. Ermittler fanden auf
seinem Handy eine Reichskriegsfahne, er selbst räumte ein, Rechtsrock zu
hören, aber auch linke Bands. Er sei unpolitisch, behauptete der
19-Jährige.
## Der Täter führt die Polizei auf seine Spur
Es war Sven N. selbst, der die Ermittler auf die Spur brachte. Nach der
Tötung sagte er einem Bekannten, er habe einen „Kinderficker“
niedergestochen, der nun tot in seiner Wohnung liege. Über Umwege landete
dieses Bekenntnis bei der Polizei – die schließlich die Leiche von Mario K.
fand und Sven N. festnahm. Gleichzeitig wurde auch Tony S. verhaftet, der
im selben Haus wie das Opfer lebte, ein Stockwerk über dessen Wohnung.
Nach Angaben der beiden Männer soll sie Mario K. am Abend des 12. Februar
2020 an einer Tankstelle nahe dem Wohnhaus angesprochen haben, ob sie gegen
Geld mit ihm sexuelle Handlungen vornähmen – was Tony S. und Sven N. empört
abgelehnt hätten. Vor der Haustür wären sie erneut auf Mario K. getroffen
und mit ihm in Streit geraten, dieser habe Tony S. gegen einen Briefkasten
gedrückt. Schon hier sollen die Angeklagten das spätere Opfer als
„Kinderficker“ geschmäht haben – ein Gerücht, das angeblich in der
Nachbarschaft kursierte, laut Staatsanwaltschaft aber haltlos ist.
Überprüfen lassen sich diese Schilderungen nicht, es gibt zu den Vorgängen
keine weiteren Zeugen. Und was danach folgte, dazu widersprachen sich die
Angeklagten im Prozess. Beide beschuldigten sich gegenseitig, den Angriff
auf Mario K. angeführt und zum Messer gegriffen zu haben. Klar aber ist: Es
folgte äußerste Brutalität, an deren Ende Mario K. tot dalag.
Für Richter Tscherner waren beide Angeklagten nach dem Streit mit Mario K.
entschlossen, diesem eine „Abreibung“ zu verpassen. Vom Treppenhaus aus
seien sie in die Wohnung des 52-Jährigen gestürmt. Sven N., der geübte
Boxer, habe ihn niedergeschlagen. Dann hätten beide Männer auf ihn
eingeprügelt. Als Mario K. nur noch röchelnd auf dem Boden lag, habe Sven
N. noch ein Messer aus der Küche geholt und damit auf dessen Hals
eingestochen.
Diese Kaltblütigkeit habe sich auch nach der Tat fortgesetzt, betont der
Richter – als sich die Angeklagten später in Handynachrichten locker
austauschten, dass die Leiche schon bis in den Hausflur stinke, man müsse
wohl Raumspray einsetzen. Und als Sven N. nur vier Tage nach der Tat in dem
Jugendcafé erneut einen Gast von einem Tresenhocker zog, niederschlug und
mit einem Messer bedrohte – dieser Angegriffene aber fliehen konnte.
Richter Tscherner wertet die Tötung von Mario K. letztlich nicht, wie
angeklagt, als Mord, sondern als gefährliche Körperverletzung mit
Todesfolge, weil die Tat spontan geschehen sei und es an Mordmerkmalen wie
Heimtücke fehle. Bei Sven N. komme ein versuchter Totschlag hinzu, wegen
der Messerattacke – da diese nicht tödlich gewesen sei, bleibe es beim
Versuch. Dem 19-Jährigen gewährt das Gericht eine Jugendstrafe. Tony S.
bekommt einen Strafrabatt, weil er bei der Tat stark alkoholisiert und
damit erheblich vermindert schuldfähig gewesen sei.
Ein politisches Motiv aber thematisiert Tscherner nicht. Staatsanwalt Jens
Wörmann erwähnt in seinem Plädoyer immerhin den Vorwurf der Pädophilie, den
die Angeklagten gegen Mario K. erhoben. Ein explizit politisches Motiv
sieht aber auch er nicht. Dies wäre zu sehr „reininterpretiert“, sagt
Wörmann auf Nachfrage. Entscheidend sei die als unmoralisch empfundene
Offerte von Mario K. gewesen.
## Als Homosexuellen markiert
Franz Zobel von der Opferberatungsstelle ezra sieht das anders. „Die Täter
haben Mario K. als homosexuellen Menschen markiert und aus einer rechten
Ideologie heraus mit Pädophilie in Verbindung gebracht, um dann
Selbstjustiz walten zu lassen“, ist er überzeugt. Zobel betont, dass
pädophile Zuschreibungen und eine damit einhergehende legitimierte
Selbstjustiz ein verbindendes Element der extremen Rechten sei. „Dazu kommt
diese völlig hemmungslose Gewalt und Entmenschlichung des Opfers. All das
zusammen spricht deutlich für ein homofeindliches und sozialdarwinistisches
Motiv.“
Die Thüringer Sicherheitsbehörden aber ordnen den Fall weiter nicht als
politisch ein – und nach dem Urteilsspruch dürfte sich das auch nicht
ändern. Die Divergenz zwischen den Behörden und der Verbände für Opfer
rechter Gewalt ist nicht neu. Seit Jahren liegen die Zahlen beider Seiten
auseinander.
So zählt das [3][Bundeskriminalamt] für 2020 insgesamt 1.092 rechtsextreme
Gewalttaten in Deutschland. Die Opferverbände kommen dagegen allein in
Ostdeutschland, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein – dort,
wo entsprechende Beratungsstellen existieren – auf 1.322 Fälle. Judith
Porath vom Dachverband der Beratungsstellen kritisiert die Erfassung
rechter Gewalttaten durch Polizei und Justiz als „lücken- und mangelhaft“.
„Das verschleiert das Ausmaß der tödlichen Dimension rechter Gewalt und
lässt die Betroffenen im Stich.“
Explizit homophobe Gewalt erfasst das BKA nicht, aber es führt ein
Deliktfeld „sexuelle Orientierung“. Bundesweit 114 Gewalttaten wurden dort
2020 erfasst. Es sind eindeutige Angriffe, bei denen die Opfer zuvor etwa
homo- oder transphob beschimpft wurden. Aber auch hier kommen die
Opferverbände auf mehr Taten: Sie zählen im vergangenen Jahr 118
Gewaltdelikte aufgrund der sexuellen Orientierung der Opfer allein in den
acht Ländern, in denen sie Zahlen erheben.
Mario K. ist kein Einzelfall. Schon 2018 wurde im sächsischen Aue der
27-jährige homosexuelle [4][Christopher W.] von drei rechten Bekannten
brutal ermordet. Auch hier gab es ein Ringen um das Motiv. Opferverbände
hielten dieses für homophob, das sächsische Landeskriminalamt ebenfalls.
Das Gericht indes sprach nur von einem „Motivbündel“, das nicht aufgeklärt
werden konnte, und verhängte Haftstrafen von bis zu 14 Jahren. Das LKA
blieb letztlich dennoch bei seiner Einstufung.
Im Fall Mario K. wiederholt sich nun die Diskussion. Nur kommen hier die
verurteilten Täter weit glimpflicher davon als im Fall Christopher W. „Ich
will keinen von Ihnen hier wiedersehen“, ermahnt Richter Tscherner die
beiden am Ende. „Das wäre für Sie sonst sehr schlecht.“ Bei guter Führung
können die Verurteilten dagegen in wenigen Jahren wieder auf Bewährung in
Freiheit sein.
Der Mann, der in dem Prozess so unsichtbar blieb, aber wird nicht
wiederkommen: Mario K.
1 Jun 2021
## LINKS
[1] https://ezra.de/
[2] /Messerattacke-in-Dresden/!5773858
[3] https://dserver.bundestag.de/btd/19/133/1913371.pdf
[4] /Urteil-nach-Totpruegeln-von-Schwulem/!5599509
## AUTOREN
Konrad Litschko
## TAGS
GNS
Verbrechen
Homophobie
Thüringen
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Transgender
Vatikan
## ARTIKEL ZUM THEMA
Islamist für Mord in Dresden verurteilt: Ungebrochener Hass
Ein 21-Jähriger Islamist ist wegen Mordes in Dresden zu lebenslanger Haft
verurteilt worden. Der zuständige Richter fand deutliche Worte.
Transfeindlichkeit in Russland: Doppelt gefangen
Der 38-jährige Nazar Gulewitsch ist trans. Eine Haftstrafe in einem
russischen Gefängnis wird für ihn lebensbedrohlich.
Aktion #liebegewinnt in der Kirche: „Die Homophobie macht mich wütend“
Die katholische Kirche verbietet Segnungen von homosexuellen Paaren. Bei
der Aktion #liebegewinnt passiert nun genau das.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.