# taz.de -- Reden über den Nahen Osten: Hauptsache, alles so wie immer | |
> Unsere Kolumnistin traut der deutschen Debatte über den Nahen Osten | |
> nicht. Sie hört interessiertes Schweigen und viel desinteressiertes | |
> Sprechen. | |
Bild: Ein beschädigtes Apartment in Petah Tikva, Israel, nach einem Raketenang… | |
Wahrscheinlich kennen Sie dieses Gedankenspiel, es wird in sozialen | |
Netzwerken gern geteilt und ist bestimmt älter als das Internet: Wenn deine | |
Enkelkinder dich eines Tages fragen, was du gegen ____ getan hast, was | |
wirst du ihnen antworten? In die Lücke lässt sich der [1][Klimawandel] | |
setzen, der Umgang mit Geflüchteten an Europas Grenzen, [2][die | |
Unterdrückung der Uigur:innen] in China. Oder, wie zuletzt: die Gewalt | |
zwischen Israelis und Palästinenser:innen. | |
Mich trifft dieses Gedankenspiel, jedes Mal. Was werde ich meinen | |
Enkelkindern sagen über den Krieg im Nahen Osten? Soll ich darüber sprechen | |
und schreiben, muss ich? Kann ich? | |
Ich finde keine Worte und stoße überall auf Hemmungen, meine eigenen und | |
die von anderen. Ich höre interessiertes Schweigen und sehr viel, was ich | |
für desinteressiertes Reden halte. Ganz ehrlich, den meisten, die in den | |
letzten Wochen über den Nahostkonflikt gesprochen haben, traue ich nicht. | |
Mein Misstrauen fängt bei der Frage an, ob sich die Sprechenden bewusst | |
sind darüber, dass Israel und der Gazastreifen echte Orte sind mit echten | |
Menschen, die echte Dinge erleben. Dass auch Palästinenser:innen mehr | |
sind als schnell ansteigende Zahlen, obwohl wir ihre Geschichten viel zu | |
selten erfahren. Dass es leicht ist, aus der Ferne radikale Lösungen zu | |
fordern und sich selbst dabei gut aussehen zu lassen. | |
## Ich traue ihnen nicht | |
Vor allem traue ich den Vielsprecher:innen in Deutschland nicht, weil | |
Antisemitismus hier am liebsten dann zum Thema gemacht wird, wenn man ihn | |
an Abschiebungen knüpfen kann. Schon erstaunlich, wie wenige | |
Gedankensprünge es braucht, um von einem Krieg in 4.000 Kilometer | |
Entfernung zur Frage zu gelangen, wen man hier rauswerfen könnte und wie. | |
Noch leichter werden Palästinenser:innen zu ewigen | |
Unruhestifter:innen, die ihren Kindern nichts als Hass predigen. | |
Hauptsache, alles so wie immer. | |
Wie sehr interessieren sich diejenigen, die sich hierzulande schnell und | |
laut positionieren, zum Beispiel dafür, dass die extreme Rechte in Israel | |
immer stärker wird? Wie sehr für die politische Kritik linker Jüdinnen und | |
Juden? Für die Rechte von Palästinenser:innen, wenn sie nicht von Israelis, | |
sondern der Hamas beschnitten werden? | |
Ich bin keine Expertin, ich versuche zu lernen und habe das Gefühl, der | |
deutsche Diskurs hilft mir nicht dabei. Wir prallen gegen unsere | |
Projektionen. „Unsere“ – ich weiß gar nicht, ob es meine sind. Und das, … | |
die wirklich Betroffenen schreiben, denken und fühlen, kommt hier kaum an. | |
Ich könnte meinen Enkelkindern antworten: Ich war damals, als die Gewalt | |
zwischen Israelis und Palästinenser:innen wieder eskalierte, | |
Journalistin bei einer Zeitung. Ich habe versucht, Menschen für diese | |
Zeitung schreiben zu lassen, die etwas Neues beitragen können, die sonst | |
vielleicht eher nicht gehört werden. | |
Das habe ich wirklich. Ich schrieb befreundeten Autor:innen aus Israel | |
und den palästinensischen Gebieten. Wie geht es dir? Willst du was | |
schreiben? Eine antwortete, sobald sie in der Lage sei, würde sie sich | |
melden. Sie hatte gerade ihre Cousine und deren Familie in Gaza-Stadt | |
verloren. Ein anderer glaubt, was er zu sagen habe, würde eine deutsche | |
Zeitung nicht drucken. Eine Dritte, sie lebt in Berlin, schrieb, sie habe | |
schon lange aufgehört, sich öffentlich zu diesem Thema zu äußern, sie wolle | |
ihre Karriere nicht gefährden. | |
Niemand ist uns seine Geschichte schuldig. Aber ich glaube, wir sind es den | |
Menschen im Nahen Osten schuldig, genauer hinzuhören, wer zu diesem Thema | |
spricht und wer nicht. Und woher dieses traurige Schweigen kommt. | |
29 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Viktoria Morasch | |
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