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# taz.de -- Verlag mit klarem Profil: „Ich suche nach Offenheit“
> Alfred Büngen ist Gründer und Leiter des Geest-Verlags in Vechta. Sein
> Antrieb: Hoffnung auf Mitmenschlichkeit und Leidenschaft fürs gedruckte
> Buch.
Bild: Geestlandschaft lässt sich nicht zähmen, nur genießen. So wie das Prog…
taz: Herr Büngen, der Name „Geest“ spielt auf Sandablagerungen der Eiszeit
an, ein Merkmal Ihrer Region. Ist das nicht heikel? Schließlich bedeutet
der Wortursprung „unfruchtbar“.
Alfred Büngen: Auch Unfruchtbares bringt manchmal Fruchtbares hervor! Und
der Verlag war, als ich vor über 20 Jahren begann, als etwas Regionales
gedacht; es war nie geplant, dass er so groß wird. Unser erstes Buch war
dann auch eins über die Geest: „Der Schäfer Karlrucksack erzählt“. Den
Schafstall, als Gebäude aus nur einem Raum, nutzen wir bis heute als
Symbol: Alle unter einem Dach, bedeutet das für uns, Autoren, Leser und
Verleger.
Der Verlag bezeichnet sich als „Verlag für engagierte Literatur“. Klingt
nach dem Versuch, ein Alleinstellungsmerkmal zu reklamieren. Verlegen,
sagen wir mal, Hanser, Piper oder Rowohlt keine engagierte Literatur?
Manchmal wage ich das zu bezweifeln. Für uns gilt: Wir verlegen kein Buch,
dass sich nicht mit Grundfragen unserer Gesellschaft auseinandersetzt, das
nichts Mitmenschliches spiegelt, das nicht zur Auseinandersetzung aufruft.
Ihre Autorenliste umfasst 1.000 Positionen. Wie viele Manuskripte bekommen
Sie pro Jahr?
Da müsste ich mal rechnen; pro Tag sind es rund 30. Und alle lese ich
zumindest an. Manches hat sich nach einer Seite erledigt, oft lese ich aber
auch sehr intensiv. Die Grundfrage ist dabei: Welches Denkangebot zum
Verhältnis Gesellschaft/Individuum macht das Buch? Was ist das Besondere
der Geschichte, die es erzählt, und wie entwickelt sie sich? Hat der Text
das Ende, dass ich erwarte? Kommt etwas Unerwartbares zutage, wird es
interessant. Ich suche nicht nach Büchern, die fertige Antworten geben. Ich
suche nach Offenheit.
Nehmen wir ein Beispiel: Goethes „Wilhelm Meister“ – so ein Roman würde …
Ihnen also nicht erscheinen?
Das würde er tatsächlich nicht. Ein solcher Text nimmt den Leser zwar mit
hinein in eine gedankliche Auseinandersetzung, gibt ihm aber die Antwort
vor.
Nicht viele Verlage folgen einer derart klar bestimmten Programmatik.
Dass wir es tun, hat uns schon manche Anfeindung eingetragen. Wir haben ja
viele Anti-rechts-Programme gemacht. Als unmissverständliches Bekenntnis.
Schon zweimal haben Rechte uns deswegen unsere Website zerstört. Es gibt
aber auch Angriffe von Linken, die bei uns ideologische Eindeutigkeit
vermissen.
Wenn Sie sich politisch einordnen: Was sagen Sie dann?
Das kommt auf einen kritischen Sozialismus raus.
Ihr Verlag stellt sich unter ein Wort von Rosa Luxemburg: „Unpolitisch sein
heißt politisch sein, ohne es zu merken.“ Ein schöner Satz. Aber woher
stammt der eigentlich? Ich habe ihn nirgendwo gefunden.
So geht es mir auch. Er wird Luxemburg zugeordnet, und er passt zu ihr, dem
Sinne nach, aber geschrieben hat sie ihn vermutlich nicht. Ich kenne ihre
Schriften in- und auswendig. Die Fundstelle müsste schon sehr versteckt
sein, wenn es sie gäbe.
Aber sich zu berufen auf Luxemburg: ein klares Statement.
Absolut. Und die 30 Manuskripte pro Tag zeigen: Luxemburg ist nicht so
verpönt, wie Bürgerliche oft sagen. Wer ihre Briefe aus dem Gefängnis
liest, weiß, was für eine humanistische Frau sie war.
Sie verlegen viel, vom Kinder- bis zum Sachbuch. Einer Ihrer Schwerpunkte
ist die Lyrik. Mutige Entscheidung, denn die Käuferschicht dafür ist ja
sicher ziemlich dünn.
Lyrik generiert meist keine so hohen Verkaufszahlen wie, zum Beispiel, ein
Roman, so unverständlich das eigentlich ist. Aber wenn der Autor oft und
überzeugend aus seinem Werk liest, kann sich Lyrik auch schon mal besser
rechnen als Prosa. Lyrik setzt sich ja vor allem durch Lesungen um.
Ein anderer Schwerpunkt ist die Vermittlung des literarischen Schreibens an
Kinder und Jugendliche. Das hat sicher mit Ihrem Staatsexamen als Lehrer zu
tun?
Es gab da dieses Erlebnis in meiner Ausbildung in der Sekundarstufe II; das
war an einem Gymnasium. Ich hatte einen Kurs, der war unheimlich fit in
Lyrik. Der Unterricht reichte den Schülern nicht, also haben wir am
Nachmittag weitergemacht, über Lyrik gesprochen, selbst Lyrik geschrieben.
Der Schulleiter verbot mir das: Sonst kämen womöglich noch mehr Schüler auf
die Idee, sich so was von ihren Lehrern zu wünschen. Das war ein Grund,
warum ich in die außerschulische Jugendarbeit gegangen bin, nicht in den
Schuldienst. Bis heute sind rund 120 Buchprojekte mit Schulen entstanden.
Eins davon mit 700 Schülern einer Förderschule mit Lese-, Schreib- und
Sozialschwäche; da war ein gutes Dutzend Autoren mit dabei, zwei Tage lang.
Seit über 15 Jahren richten Sie Sommerfeste aus. Da gibt es Lesungen,
Ausstellungen, Workshops, und das alles bei freiem Eintritt. Wie rechnet
sich so was?
Gar nicht; das trägt sich über die allgemeine Verlagsarbeit und
ehrenamtliches Engagement. Im Grunde sind das Familienfeste. Man lernt sich
kennen, die Jungen hören den Alten zu, die Alten den Jungen. Es gibt
Lesungen von mittags bis weit nach Mitternacht, im 10-Minuten-Takt. Man
isst, trinkt, redet. Da geht’s dann um Inhalte und nicht, wie oft auf
Literaturfesten, in erster Linie darum, wer am besten liest.
Apropos Inhalte: 2021 haben Sie erneut Else Urys „Nesthäkchen und der
Weltkrieg“ von 1916 herausgebracht. Warum? Ihr Frauenbild ist bieder und
sie neigt zu Heldenpatriotischem „freudig fürs Vaterland“ …
Nein, nein! Vorsichtig mit dem Nesthäkchen! Marianne Brentzel,
Herausgeberin und Ury-Biografin, stammt aus dem ganz linken Spektrum, war
die letzte Vorsitzende der maoistischen KPD (AO), und ihr Vorwort ist sehr
kritisch. Ury zeigt, wie eine Gesellschaft hineingerät in eine solche Lage.
1943 starb sie in Auschwitz.
Tragisch war, dass sie, als Jüdin, fast bis zuletzt an Hitler geglaubt hat.
„Nesthäkchen und der Weltkrieg“ ist eines der Bücher, bei denen man sich
besonders genau fragen muss, warum man es veröffentlicht. Viele Ältere
haben sich durch das Buch noch einmal mit ihrer eigenen Kindheit
auseinandergesetzt.
Die „Geest“-Website geht weit über Sortiment und Shop hinaus.
Täglich wird sie von bis zu 5.000 Menschen besucht.
Wettbewerbsausschreibungen stehen drauf; es gibt ein „Gedicht des Tages“.
Manchmal schreibe ich auch was Politisches rein.
Ich erfahre sogar, welcher Titel gerade in der Umschlaggestaltung ist, im
Lektorat, in der Autorenkorrektur. Was ist der Sinn dahinter?
Das ist ganz einfach Faulheit von mir. Wenn ich das nicht reinschreiben
würde, hätte ich 20 Telefonate mehr am Tag. Diese Offenheit hat bei uns
Tradition; das Verlagsgeschehen ist ja oft viel zu verschlossen. Klar, es
gibt Leute, die sagen uns: Also, das heutige Gedicht geht ja wohl gar
nicht! Da kann ich nur sagen: Okay, dann schreib doch selbst eins!
25 Sep 2021
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## TAGS
Denken
Niedersachsen
Buch
Bücher
Schwerpunkt Artenschutz
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Eine Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme erinnert an die jüdische
Bestseller-Autorin Else Ury. Sie fühlte sich als Deutsche, verehrte anfangs
sogar Hitler. Auch als sie wusste, was auf sie zukam, weigerte sie sich,
Deutschland zu verlassen.
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Die Nesthäkchen-Reihe ist typische Backfischliteratur des beginnenden 20.
Jahrhunderts. Die Autorin Else Ury, wurde 1943 von den Nazis in Auschwitz
ermordet.
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