| # taz.de -- Kultur fast schon wie vor Corona: Urlaub vom Lockdown | |
| > In Schleswig-Holstein erproben 13 Kultureinrichtungen, wie man während | |
| > der Pandemie öffnen kann. Ein Ausflug ins Theater Kiel. | |
| Bild: Leer noch, aber man ist leibhaftig da: Besucher:innen warten am 20. April… | |
| Kiel taz | Der Himmel ist blau und weit. Viel blauer und weiter als sonst. | |
| Ich sitze im Regionalexpress und fahre von Hamburg – nach Kiel. Kurz steht | |
| der Zug zwischen Kuhweiden und Kleingärten, aber mir macht die Verzögerung | |
| (fast) nichts aus. Für meine kleine Reise – knappe 100 Kilometer und | |
| eigentlich nicht mehr als eine gute Stunde Zugfahrt – habe ich eine Menge | |
| Extrazeit eingeplant. | |
| Und als ich mit Verspätung am Nachmittag am Kieler Hauptbahnhof ankomme, | |
| habe ich immer noch gute Laune. Denn mitten im x-ten Lockdown, mitten im | |
| immer noch weitgehend stillgelegten Theaterspielbetrieb, fahre ich zu einer | |
| live gespielten Theaterpremiere im Schauspiel Kiel. | |
| Im Rahmen des [1][Modellprojekts Schleswig-Holstein] – im Bundesland mit | |
| einer Sieben-Tage-Inzidenz von derzeit rund 54 – dürfen dort seit dem 19. | |
| April 13 Kultureinrichtungen Veranstaltungen unter Pandemiebedingungen | |
| erproben. Live und mit Zuschauern. Die Modellprojekte sind auf vier Wochen | |
| befristet und werden danach ausgewertet. Das Nordkolleg Rendsburg etwa ist | |
| mit dabei, die Theaterwerkstatt Pilkentafel in Flensburg, das Elbeforum in | |
| Brunsbüttel, das Kulturzentrum Schloss Reinbek, das Theater Lübeck und auch | |
| das Theater der Landeshauptstadt. | |
| Im Schauspiel des Fünf-Sparten-Hauses hat heute das Stück „[2][Bin nebenan | |
| – Monologe für Zuhause]“ von [3][Ingrid Lausund] Premiere, Regie führt | |
| Annette Pullen. Doch zuerst nehme ich den Bus – vorbei an geöffneten | |
| Geschäften und Restaurants mit belebter Außengastronomie – nordwärts | |
| [4][in den schicken Stadtteil Düsternbrook] am Westufer der Förde. Hier, | |
| mit Blick auf den Yachthafen, registriere ich mich bei „Gosch“, bestelle | |
| eine Weißweinschorle und eine Portion Fish ’n’ Chips. Von der | |
| windgeschützten Terrasse aus beobachte ich das heitere Treiben der | |
| zahlreichen Spaziergänger und fühle mich ein bisschen wie im Urlaub. | |
| ## Aufgeregt wie vorm Kindergeburtstag | |
| Ich habe Kiel mit seinen quadratisch-praktischen Backsteinbauten der 50er- | |
| und 60er-Jahre immer als hässlich empfunden, als windig, verbaut und | |
| schlecht proportioniert. Jetzt aber ist Kiel ein Sehnsuchtsort: Beglückt | |
| blicke ich über das glitzernde Wasser der Förde, lese voller Sehnsucht die | |
| Hinweisschilder zum „Norwegenkai“, bevor ich mich auf den Weg mache zur | |
| Teststation am Rathausplatz. Schließlich ist mein Theaterticket nur in | |
| Verbindung mit einem aktuellen, negativen Covid-19-Test gültig. | |
| „Theaterbesucher*innen werden in der Warteschlange bevorzugt, zeigen Sie | |
| einfach Ihr Ticket vor“, heißt es auf der Website des Theaters. Nicht | |
| nötig. An der Teststation bin ich die einzige Kundin. Einen Rachenabstrich | |
| und einen ernüchternden Smalltalk später – einer der Mitarbeiter erzählt | |
| mir von seiner vor-pandemischen Selbstständigkeit in der Nachtgastronomie – | |
| habe ich das Ergebnis. Das zeige ich am Theatereingang vor, zusammen mit | |
| der Einwilligung zur digitalen Nachverfolgung meiner Daten und der | |
| Teilnahme am Modellprojekt, genauso wie meinen Personalausweis und | |
| schließlich auch meine Eintrittskarte. Ein bisschen wie beim Check-in am | |
| Flughafen. | |
| Im Theatersaal, der eigentlich 400 Plätze fasst, sind die Reihen extrem | |
| ausgedünnt. „Im Schauspielhaus haben wir im Rahmen des Modellprojektes 70 | |
| Plätze“, erklärt Ulrike Eberle, die Leiterin Marketing und | |
| Öffentlichkeitsarbeit. Die Karten für die Lausund-Premiere seien am zweiten | |
| Tag nach der Veröffentlichung weg gewesen. Nun scheint der ganze Saal von | |
| einer besonderen Grunderregung erfasst, die anders ist, als es sonst bei | |
| Premieren zu erleben ist. Eine, die ein wenig an die Aufregung vor dem | |
| eigenen Kindergeburtstag erinnert. Und tatsächlich reibe ich mir ungläubig | |
| die Augen, als die Schauspieler leibhaftig die Bühne betreten. | |
| Stück und Inszenierung sind wenig berauschend, die Kernaussagen schnell | |
| zusammengefasst: Dass hinter jeder Fassade ein Riss, vielleicht sogar ein | |
| (seelischer) Abgrund stecken mag, dass mancher Mensch, obwohl er ein Dach | |
| über dem Kopf hat, kein Zuhause hat, dass Träume anders buchstabiert werden | |
| als die Realität und dass viele Menschen auch in der Zweisamkeit einsam | |
| sind: Die Monologe variieren stark in Qualität und Originalität. In manchen | |
| Fällen sind sie aufdringlich ausschweifend oder schmerzhaft schlicht. Ein | |
| bisschen Sprachpoesie ist auch mit dabei. Doch vor allem punktet der Abend | |
| mit der Möglichkeit des lang ersehnten Live-Erlebnisses. | |
| Natürlich sei der Aufwand, den das Modellprojekt mit sich bringe, enorm, | |
| räumt [5][Daniel Karasek], der Generalintendant des Theaters und | |
| künstlerische Leiter Schauspiel, ein. Schließlich betreffe er sämtliche | |
| Abläufe vor, auf und hinter der Bühne. Mit den Vorstellungen seien sie, | |
| erklärt Eberle, immer nur mit einer Woche im Verkauf, „da wir ja an die | |
| Inzidenz 100 gebunden sind und nicht wissen, ob sie irgendwann doch | |
| eintritt“. | |
| Auch das Hygienekonzept aus dem Herbst musste noch einmal strenger | |
| gestaltet werden, um alle Vorgaben der Landesregierung zu erfüllen. „Aber | |
| bis jetzt klappt alles sehr gut, wir konnten pünktlich mit den | |
| Vorstellungen starten und die Zuschauer*innen zeigen großes Verständnis | |
| für alles, was gefordert ist“, berichtet Karasek. Und er freue sich „über | |
| das rege Interesse des Publikums und die große Begeisterung, die | |
| zurückkommt!“. | |
| ## 78 Plätze statt 320 | |
| Das Theater Lübeck plant, seinen Spielbetrieb, vorausgesetzt die | |
| Sieben-Tage-Inzidenz bleibt weiterhin unter 100, vom 15. Mai bis zum 13. | |
| Juni wieder aufzunehmen. Im Zuschauerraum des Großen Hauses, der rund 800 | |
| Sitzplätze umfasst, sind dann – je nach der Anzahl von einzelnen und | |
| mehreren Besucher*innen eines Haushalts – 160 bis 200 Plätze verfügbar. | |
| Im 320 Sitzplätze fassenden Zuschauerraum der Kammerspiele werden es | |
| maximal 78 sein. Das detaillierte Programm, das ein alle Sparten | |
| umfassender, eigentlich ganz normaler Spielplan sein soll, wird am 6. Mai | |
| bekannt gegeben. | |
| Auf die Frage, ob sich der organisatorische und dispositionale Aufwand | |
| überhaupt lohne, antwortet der Geschäftsführende Theaterdirektor Caspar | |
| Sawade: „Ob sich der Aufwand für das Modellprojekt lohnt, kann man | |
| letztlich erst anhand der Erfahrungen beurteilen, die man innerhalb des | |
| Modellzeitraumes gesammelt hat. Auf jeden Fall sollen diese Erkenntnisse | |
| aus dem Modellprojekt in die Organisation und Durchführung der Spielzeit | |
| 2021/22 einfließen. Und dafür lohnt es sich ganz sicherlich.“ | |
| Auch Karin Prien, die Kulturministerin des Landes Schleswig-Holstein, | |
| erhofft sich von den Modellprojekten vor allem Erkenntnisse für weitere | |
| Öffnungsstrategien. „Die Rückmeldungen werden uns zeigen, was gut | |
| funktioniert hat, was verbessert werden kann und welchen nächsten Schritt | |
| wir bei der Öffnung der Kultur wagen können“, kann man in einer | |
| Pressemitteilung nachlesen. | |
| Ein kühles Dosenbier auf diesen Hoffnungsschimmer. Und damit auf die zarte | |
| Aussicht auf einen vielleicht nahenden, vielleicht halbwegs normalen | |
| Theaterbetrieb. | |
| 9 May 2021 | |
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| [1] https://www.schleswig-holstein.de/DE/Landesregierung/III/_startseite/Artike… | |
| [2] https://www.theater-kiel.de/schauspiel-kiel/programm/produktion/titel/bin-n… | |
| [3] /!5379593 | |
| [4] /Axel-Milberg-ueber-sein-Romandebuet/!5589368 | |
| [5] /Kitsch-statt-Klassenkampf-in-der-Oper/!5548843 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Ullmann | |
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