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# taz.de -- Verkehrsforscher über Sprache: „Die Straße war mal für Kinder�…
> Berichte über Verkehrsunfälle halten die Schuld häufig von Autofahrern
> fern. Laut Dirk Schneidemesser prägt das unser Bewusstsein.
Bild: Junge spielt alleine Fußball auf der Straße
taz: Herr Schneidemesser, Sie sagen, Sprache hält die Mobilitätswende auf.
Wieso?
Dirk Schneidemesser: Die Sprache spiegelt die Einstellung zum öffentlichen
Raum und zum Auto wider. Wir haben seit fast einem Jahrhundert über die
Sprache die Daseinsberechtigung des Autos verinnerlicht und tief in uns
verankert. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Straße ein Ort, wo
Kinder gespielt haben, wo man seinen Nachbarn begegnet ist, wo man auch
Handel getrieben hat. Es gab Verkehr, aber das war eine von vielen
Aktivitäten. Heutzutage haben wir die Vorstellung, die Straße ist da für
einen einzigen Zweck, und das ist sogar verankert in unserer Gesetzgebung:
den motorisierten Verkehr.
Die Straße ist also ausschließlich fürs Auto da?
Genau. Wenn man in die Geschichtsbücher schaut, ist es dazu durch eine
konzertierte Aktion von Menschen gekommen, die meinten, das Auto ist die
Zukunft, wir müssen unser Land, unseren öffentlichen Raum nach den
Bedürfnissen des Autos ausrichten. Daraus folgte die Überzeugung: Wir
müssen in Kauf nehmen, dass Menschen verletzt oder gar getötet werden. Die
müssen wir von der Straße weghalten, damit der Autoverkehr nicht gestört
wird. Nehmen wir das Beispiel Spielplatz: Ein Spielplatz ist im Grunde
genommen ein Ort, wo wir Kinder hinschicken können, damit wir sie nicht an
der Leine haben müssen, wo sie ungefährdet sind, spielen können.
Spielplätze haben wir, weil die Straße unsicher wurde für Kinder.
Haben die Menschen anders gesprochen, als das Auto die Straße noch nicht
dominierte?
Ja. Das kann man noch hören, wenn man ältere Menschen fragt. Ein Bekannter
von mir hat erzählt, dass seine Mutter früher zu ihm und seinem Bruder
sagte: „Geht runter und spielt auf der Straße.“ Die Kinder waren um die
fünf Jahre alt. Diesen Satz würde heute wahrscheinlich niemand zu so
kleinen Kindern sagen. Denn „die Straße“ hat eine andere Bedeutung.
Wie blockiert die Sprache die Verkehrswende?
Wir reden zum Beispiel von einer gesperrten Straße, wenn ganz vielfältige
Aktivitäten dort passieren. Unser Institut, das IASS Potsdam, hat im
vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Bezirksamt in Berlin
Friedrichshain-Kreuzberg einen Prototyp für eine temporäre Spielstraße
entwickelt. Das ist eine für einen Tag pro Woche autofreie Straße. In
Coronazeiten brauchen die Menschen mehr Raum, wenn sie nicht in die
überfüllten Parks gehen sollen. Diese Straßen wurden oft beschrieben als
„gesperrte Straße“. Da haben wir ganz schön gezuckt. Denn genau das
Gegenteil ist der Fall: Wir haben die Straße geöffnet, damit die Menschen
dort Sport machen, sich auf der Straße aufhalten, etwas essen können.
Auch wenn das Auto stillsteht, wird ihm viel öffentlicher Raum zugestanden.
Das Parken an sich ist ein absurdes Phänomen. Stellen wir uns mal vor, wir
lagern etwas anderes im öffentlichen Raum: Ich montiere ein Schloss an
meinen Kühlschrank und stelle ihn an den Straßenrand. Das klingt absurd,
aber das ist eine ähnliche Praxis. Autos werden im öffentlichen Raum
gelagert. Das Wort „parken“ normalisiert dieses Verhalten. Wir hinterfragen
diese Praxis nicht. Dabei ist das die Privatisierung des öffentlichen
Raumes. Ein Parkplatz kostet bei der Einrichtung bis zu 5.000 Euro, im
Unterhalt bis zu 300 Euro im Jahr in urbanen Räumen. Die
Anwohnerparkgebühren spiegeln diese Kosten nicht wider. Der öffentliche
Raum ist viel zu wertvoll, um Privatautos gratis oder nahezu gratis dort
abzustellen.
Sie kritisieren die Beschreibung von Unfällen. Was ist falsch an:
„Radfahrer:in prallt gegen Auto“?
Wir wissen aus den Unfallstatistiken, dass die überwiegende Mehrheit der
Kollisionen vom motorisierten Verkehr verursacht werden. Aber in
Polizeiberichten oder in der Berichterstattung der Presse wird das oft so
dargestellt, als ob die Radfahrenden oder die zu Fuß Gehenden falsch
gehandelt haben, dass sie an einem Ort waren, an dem sie nicht hätten sein
sollen. Das ist keine böse Absicht, aber wir haben uns so daran gewöhnt,
dass die Straße für den Autoverkehr da ist, dass wir denken: Da war ein
Fußgänger, was hatte der da überhaupt zu suchen?
Spiegelt das die Machtverteilung im Verkehr?
Ja. Die Sprache zeigt, wer berechtigt ist, Platz für sich in Anspruch zu
nehmen. Das ist der Kern der Machtfrage. Wir sagen: „Die Fußgängerin wurde
angefahren“ statt „Die Autofahrerin fuhr die Fußgängerin an“. Oft werden
Autos und Autofahrende als Naturphänomen dargestellt und Fußgänger oder
Radfahrende als Ausnahmen, deren Berechtigung subtil infrage gestellt wird.
Sie vermeiden das Wort „Unfall“. Warum?
Das Wort „Unfall“ hat eine verharmlosende Wirkung, Kollision trifft besser
zu. Ein Unfall ist unerwartet, ist eine Ausnahme. Aber es passieren
tagtäglich schwere Unfälle. Unser Verkehrssystem ist so aufgebaut, dass wir
das in Kauf nehmen. Wir wissen, dass dieses Jahr in Deutschland
höchstwahrscheinlich um die 3.000 Menschen durch Verkehrsgewalt getötet
werden. Es ist schwierig, das als unerwartet oder Ausnahmen zu beschreiben
– was wir aber mit dem Wort Unfall ein Stück weit tun.
Sie bezeichnen das normale Unfallgeschehen als Verkehrsgewalt?
Ja. Ein normales Unfallgeschehen, was soll ich mir darunter vorstellen? Da
denke ich nicht an Knochenbrüche, Blut auf der Straße oder Ähnliches. Aber
das sind die tatsächlichen Folgen von Kollisionen. Deswegen sollten wir
auch von Gewalt reden. Gewalt ist etwas, was wir gesellschaftlich nicht
wollen, wogegen wir als Gesellschaft etwas unternehmen möchten. Und
tatsächlich können wir eine ganze Menge dagegen tun, zum Beispiel die
Höchstgeschwindigkeit herabsetzen.
Kann eine andere Sprache die Verkehrswende voranbringen?
Das könnte sie. Es gibt eine US-amerikanische Studie, bei der 999 Probanden
mit drei unterschiedlichen Versionen eines Berichts über eine Kollision
zwischen einer Fußgängerin und einer Autofahrerin konfrontiert wurden. Je
nachdem, ob der Fokus auf der Fußgängerin oder der Autofahrerin lag,
änderte sich die Beurteilung, was man gegen die Kollision tun könnte. Lag
der Fokus auf der Autofahrerin, wurden die Probanden zum Beispiel offener
für Tempolimits.
Bekommen Menschen weitere Informationen – etwa wie viele Kollisionen dieser
Art es auf dieser Straße oder landesweit gibt und welche Rolle die
Infrastruktur dabei spielt –, dann reagieren sie viel offener und
befürworten Veränderungen an der Infrastruktur stärker. Das zeigt, dass die
Sprache, mit der wir über Mobilität und die Stadt reden, Handlungsoptionen
öffnet oder schließt. Meine These ist, wenn wir nicht von Parkplätzen
reden, sondern von Autolagerflächen, ändern sich die Diskussionen. Das
Gespräch darüber, ob wir diese Flächen für private Autos, für Radwege oder
als Aufenthaltsraum für Anwohnerinnen und Anwohner brauchen, würde ganz
anders verlaufen.
Britische Forscher veröffentlichen bald Leitlinien für die
Verkehrsberichterstattung. Was schlagen sie vor?
Es geht darum, die Handlungsmacht im Verkehr richtig zuzuschreiben, zu
sagen, wer aktiv und wer passiv ist. Wir wissen aus
kommunikationswissenschaftlichen Studien, dass die Schuldzuschreibung
darüber erfolgt, ob ein Akteur aktiv oder passiv dargestellt wird. Wenn
Autofahrende als Naturphänomen dargestellt werden, das immer da ist, dann
ist es schwierig, zu dem Punkt zu kommen, dass sie vorsichtiger fahren
müssen, um nicht die Fußgängerinnen anzufahren. Autofahrenden muss eine
aktivere Rolle zugeschrieben werden.
Deutsch ist Ihre zweite Sprache, Englisch Ihre erste. Gibt es große
Unterschiede in der Beschreibung von Verkehr?
Es gibt viele ähnliche Beschreibungen in Polizeiberichten und
Zeitungsartikeln. Deutschland ist heute ähnlich wie die USA und
Großbritannien ein Autoland. Das spiegelt auch unsere Sprache wider.
11 May 2021
## AUTOREN
Anja Krüger
## TAGS
Mobilitätswende
Verkehrsunfälle
Fußgänger
Tempolimit
Radverkehr
ADFC
Kreuzberg
Verkehrswende
Eimsbüttel
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