| # taz.de -- Medialer Umgang mit IS-Anhängerinnen: Opfer und Täterin zugleich | |
| > Deutsche IS-Anhängerinnen sind für das Rechtswesen und | |
| > Journalist*innen eine komplizierte Angelegenheit. Es gilt, Ambivalenz | |
| > auszuhalten. | |
| Bild: Nicht nur Opfer: zwei Frauen in einem Camp für IS-Familien | |
| Merve A. ist nach Syrien gereist, um sich dem sogenannten Islamischen Staat | |
| anzuschließen. „Ich war 18, ich konnte nicht zwischen richtig und falsch | |
| entscheiden“, rechtfertigt sie das [1][in einem Spiegel-Online-Video]. | |
| Darin werden die junge Frau und der verzweifelte Kampf ihrer Eltern um ihre | |
| Rückkehr thematisiert. Und mit der Aussage spricht sie sich selbst ihre | |
| Mündigkeit ab. Im Video heißt es über Merve A.: „Als sie 18 war, verließ | |
| sie Hamburg und folgte ihrer großen Liebe nach Syrien.“ Die mögliche eigene | |
| islamistische Einstellung und die Taten vor Ort werden vernachlässigt. | |
| „Es geht oft um das Persönliche und es wird emotional. Das greift | |
| allerdings zu kurz“, sagt Carola Richter. Sie ist Professorin an der | |
| Arbeitsstelle Internationale Kommunikation der Freien Universität Berlin | |
| und forscht zu Islam in den Medien. | |
| Seit 2019, als das letzte IS-Gebiet in Syrien befreit worden ist, | |
| beschäftigen IS-Rückkehrer*innen die deutsche Gerichtsbarkeit – aber auch | |
| die Medien. Besonders schwer tun sich beide mit den Frauen unter ihnen. | |
| Mittlerweile hat die Bundesanwaltschaft mehrere Verfahren gegen | |
| IS-Rückkehrerinnen eröffnet. Meist wird ihnen Mitgliedschaft in einer | |
| terroristischen Vereinigung, Verstoß gegen das Völkerrecht, Sklaverei und | |
| Mord vorgeworfen. | |
| Doch die Verfahren sind komplex: Den männlichen Dschihadisten ihre | |
| Verbrechen nachzuweisen, ist einfacher, da sie in der Propaganda sichtbarer | |
| und im Kampf aktiv waren. Viele Frauen dagegen waren scheinbar „nur“ | |
| Hausfrauen und Mütter – und stellen sich nach ihrer Rückkehr oftmals als | |
| Opfer des IS dar. „Ich finde, die Berichterstattung über IS-Kämpferinnen | |
| zeugt von einer gewissen Ratlosigkeit der Journalist*innen gegenüber | |
| den Dschihadistinnen. Nach dem Motto ‚Wie sollen wir sie jetzt | |
| einordnen?‘“, sagt Richter. | |
| ## Als ginge es um Affären | |
| Die [2][Bild hat 2019] eine mehrteilige Dokumentation über die | |
| IS-Rückkehrerin Derya Ö. gedreht. Darin erzählt die junge Frau ihre | |
| Geschichte unter dem Titel „vom Rotlicht zu ISIS und zurück“ – als sei d… | |
| Mitgliedschaft in einer Terrororganisation nur eine weitere Station in | |
| einem außergewöhnlichen Leben. Wenn sie über Gewalt spricht, dann in einem | |
| lässigen Ton. Die Bild bewirbt die Videos mit dem Satz: „Noch nie hat eine | |
| ISIS-Rückkehrerin so offen gesprochen“ – als ginge es um Affären und | |
| Intrigen und nicht um eine Terrororganisation. Den Opfern des IS wird dabei | |
| kein Raum gegeben. So wird Distanz zu den Ereignissen geschaffen. | |
| Aber nicht nur Boulevardmedien zeichnen ein verzerrtes Bild von | |
| IS-Anhängerinnen. In dem Video von Spiegel Online werden die Eltern von | |
| Merve A. gezeigt. Ihr Schmerz ist durch den Bildschirm zu spüren, die | |
| Dokumentation erzeugt Mitleid. Die junge Frau selbst erhält Raum, ihre | |
| Version der Geschichte unwidersprochen darzulegen: Sie sei aus Liebe ihrem | |
| Mann nach Syrien gefolgt. „Mein Gehirn war ausgeschaltet, ich bin meinem | |
| Herzen gefolgt.“ | |
| ## IS als Jugendsünde | |
| Die Zeit beim IS erscheint als Jugendsünde und Liebesbeweis. Diese | |
| Umdeutung wird von den Journalist*innen hingenommen – es gibt keine | |
| Einordnung durch Nachfragen oder Befragung von Expert*innen. | |
| Die Berichterstattung über IS-Rückkehrerinnen ist dabei Teil eines größeren | |
| Problems: Deutsche Medien tun sich immer noch schwer, wenn es darum geht, | |
| adäquat über Minderheiten zu berichten. Häufig orientiert sich die | |
| Berichterstattung an angeblichen Merkmalen von Gruppen und nicht an | |
| Individuen. Der Islam wird dabei oft mit Gewalt und Terror verknüpft, | |
| stellt Margreth Lünenborg, Professorin für Journalistik an der FU Berlin, | |
| fest. | |
| ## Muslimische Migrantin als Opfer | |
| Vor allem nach den Anschlägen vom 11. September 2001 rückten Muslime in den | |
| Fokus, die in der öffentlichen Debatte verstärkt als mögliche Attentäter | |
| wahrgenommen wurden. Dabei gab es einen geschlechtsspezifischen | |
| Unterschied: „In Kontrast zu ihrem männlichen Pendant ist die muslimische | |
| Migrantin in eine Rolle als Opfer, auch als Opfer ihrer eigenen Community, | |
| gedrängt worden. Und die dient im Diskurs auch dazu, die Deutschen dazu zu | |
| ermächtigen, ihr die Hilfe zu geben, die sie angeblich braucht“, sagt | |
| Lünenborg. | |
| Diese Wahrnehmung hat etwas mit der Migrationsgeschichte der Bundesrepublik | |
| zu tun. Die Generation von Arbeitsmigrant*innen prägte lange Zeit das | |
| mediale Bild über Muslim*innen. Im Fokus standen dabei Männer. Migrantische | |
| Frauen kamen lange Zeit gar nicht vor, teilweise, weil sie erst durch eine | |
| Familienzusammenführung viele Jahre später migrieren konnten, aber auch, | |
| weil Migranten dieser Generation vor allem in ihrer Funktion als Arbeiter | |
| wahrgenommen wurden. | |
| ## Das Bild korrigiert sich | |
| Zu diesen verzerrten Wahrnehmungen kommt die problematische Stellung der | |
| Frau in Teilen des Islams und die damit einhergehende Ungleichbehandlung. | |
| So setzte sich ab den 1980er-Jahren verstärkt das Klischee der nicht | |
| Deutsch sprechenden Frau durch, die ihrem Mann hinterherlaufen muss. | |
| In den letzten Jahren korrigiert sich dieses Bild zunehmend, auch durch | |
| Musliminnen der dritten und vierten Generation, die selbstbewusst auftreten | |
| und durch Social Media über eigene Plattformen verfügen. Trotzdem hält sich | |
| die Vorstellung der demütigen Frau, die dem Mann untergeordnet ist, | |
| hartnäckig, was sich auch in der Bildsprache im Journalismus zeigt: Frauen | |
| mit Kopftüchern werden oft von hinten fotografiert. | |
| ## „Bestandteil des Machtapparats“ | |
| Auch kommen solche Bilder oft dann zum Einsatz, wenn es um Probleme beim | |
| Thema Integration geht. „In diesen Abbildungen werden Klasse, Geschlecht, | |
| Identität und Religion miteinander verschränkt“, erklärt Lünenborg. | |
| Das Kopftuch und auch die muslimische Frau werden zu Symbolen der | |
| unterstützungsbedürftigen Migrantin. In der Berichterstattung über | |
| IS-Anhängerinnen werden Journalist*innen nun aber mit muslimischen | |
| Frauen konfrontiert, die nicht in dieses Opferbild passen, weil sie auch | |
| Täterinnen sind. Beim IS waren sie nicht nur Hausfrauen und Mütter, sondern | |
| warben auch Frauen an und fungierten als Ansprechpartnerinnen. Auch das | |
| Auswärtige Amt sagt: „Frauen waren ein integraler [3][Bestandteil des | |
| Machtapparats des IS].“ | |
| ## Berichterstattung „sehr wohlwollend“ | |
| Gleichzeitig erzählen die Frauen vor Gericht von häuslicher Gewalt, die sie | |
| erlebt haben, wie sie und ihre Kinder vor dem Krieg flohen oder im Lager | |
| ausharrten. Täterinnenschaft und Opfersein schließen sich dabei nicht aus. | |
| Mit dieser Ambivalenz müssen nicht nur die Gerichte, sondern auch | |
| Journalist*innen umgehen, die oft versuchen, Erklärungen für das | |
| Handeln der Frauen zu finden. | |
| Für Opfer des IS in Deutschland können verharmlosende Veröffentlichungen | |
| schmerzhaft sein. Düzen Tekkal ist Journalistin und Mitgründerin der | |
| Menschenrechtsorganisation Hawar.help. Über die Berichterstattung sagt sie: | |
| „Ich empfinde sie als sehr wohlwollend. Für die Opfer, wie die Jesidinnen, | |
| fühlt sich das ungerecht an.“ Aktuell begleitet Tekkal in München den | |
| Prozess gegen die IS-Anhängerin Jennifer W. „Mir fehlt der Aspekt, dass | |
| diese Frauen sich sehr bewusst und freiwillig dem IS angeschlossen haben. | |
| Ich war beim ersten Gerichtstag dabei und ich fand es sehr wichtig, dass | |
| die Anklageschrift noch einmal verlesen wurde, weil da noch einmal die | |
| Brutalität des Regimes deutlich wird.“ | |
| ## Verantwortung vermeintlich nur beim Mann | |
| In [4][der Anklageschrift] steht über ein jesidisches Mädchen, das | |
| verschleppt worden war: „Nachdem das Mädchen erkrankt war und sich deshalb | |
| auf einer Matratze eingenässt hatte, kettete der Ehemann der | |
| Angeschuldigten das Mädchen zur Strafe im Freien an und ließ das Kind dort | |
| bei sengender Hitze qualvoll verdursten. Die Angeschuldigte ließ ihren | |
| Ehemann gewähren und unternahm nichts zur Rettung des Mädchens.“ Vor | |
| Gericht bemühte sich Jennifer W., sich als Opfer der Umstände darzustellen, | |
| und sagte, dass sie sich aus Angst vor ihrem Mann nicht getraut habe, das | |
| Mädchen zu befreien. | |
| Die [5][FAZ titelte] mit ihrer Aussage: „Er band das Kind erst los, als es | |
| bewusstlos war“ – und übernahm so ihr Narrativ. Der Artikel selbst ist | |
| hinter einer Paywall. Für Leser*innen wirkt es so, als läge die | |
| Verantwortung für den Tod des Mädchens allein beim Mann. Im Titel und auch | |
| im Teaser wird nicht deutlich, dass Jennifer W. nicht einfach eine Zeugin | |
| ist, die gegen ihren Mann aussagt, sondern mitangeklagt. Ihre eigene | |
| Verantwortung wird erst an späterer Stelle im Text behandelt. | |
| ## Ideologie ist kein Kopftuch | |
| Auch der besondere journalistische Fokus auf das Aussehen und den Auftritt | |
| der Frauen fällt auf. In [6][einem Spiegel-Text] heißt es: „W. soll bis | |
| heute überzeugte Anhängerin der Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘ (I… | |
| sein. Anzusehen ist es ihr an diesem Dienstagmorgen im Oberlandesgericht | |
| München nicht: Sie trägt einen schwarzen Hosenanzug mit weißer Bluse, eine | |
| schwarz umrandete Brille, das Haar zu einem streng geflochtenen Zopf | |
| gebunden.“ Als ließe sich eine Ideologie wie ein Kopftuch ablegen. | |
| „Beim Islambild wird generell der Schwerpunkt auf Symboliken und das | |
| Aussehen gelegt. Unterschwellig schwingt die Frage mit: Ist das eine | |
| richtige Muslima?“, ordnet Richter ein. Auch Tekkal sagt: „Wenn die Frauen | |
| keine Vollverschleierung tragen, möchten sie zeigen ‚Seht her, ich bin so | |
| wie ihr‘.“ | |
| Um Selbstinszenierungen wie diese nicht einfach zu übernehmen, müssen | |
| Journalist*innen kritisch bleiben, den Frauen, aber auch sich selbst | |
| gegenüber. Dabei sollten sie sich auch mit ihrem eigenen Islambild | |
| auseinandersetzen, eine Bandbreite an Quellen und Expert*innen | |
| heranziehen. Denn der journalistischen Einordnung der IS-Rückkehrerinnen | |
| helfen weder einseitige Verharmlosung noch Verteufelung. | |
| 6 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.spiegel.de/panorama/spiegel-tv-ueber-is-frau-merve-einmal-krieg… | |
| [2] https://www.bild.de/bild-plus/video/clip/isis/die-isis-braut-teil-1-6015623… | |
| [3] /Rueckkehr-von-IS-Frauen-nach-Deutschland/!5715540 | |
| [4] https://www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/Pr… | |
| [5] https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/prozess-um-tod-von-jesidis… | |
| [6] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/muenchen-liess-jennifer-w-in-falluds… | |
| ## AUTOREN | |
| Laila Oudray | |
| ## TAGS | |
| „Islamischer Staat“ (IS) | |
| Islam | |
| Migration | |
| IG | |
| Schwerpunkt 9/11 | |
| Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
| „Islamischer Staat“ (IS) | |
| Islamismus | |
| Schwerpunkt 9/11 | |
| Islamismus | |
| Irak | |
| Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Politologe über IS-Rückkehrerin: „Ein wichtiges Signal“ | |
| Im Prozess gegen Jennifer W. ging es um mehr als den Mord an einer | |
| Fünfjährigen, sagt der Politologe Thomas Mücke. Es ging um Völkermord. | |
| Urteil gegen IS-Rückkehrerin: Ein erstaunlicher Fall | |
| Die IS-Rückkehrerin Jennifer W. ist in München zu zehn Jahren Haft | |
| verurteilt worden. Es war ein ungewöhnlicher Prozess. | |
| Islamistin ließ Mädchen verdursten: Zehn Jahre Haft für IS-Rückkehrerin | |
| Jennifer W. sah im Irak tatenlos zu, wie ein jesidisches Mädchen angekettet | |
| verdurstete. Nun verurteilte sie das Oberlandesgericht München zu zehn | |
| Jahren Haft. | |
| Anti-Terror-Maßnahmen der USA: Kampf mit offenem Ende | |
| 20 Jahre nach 9/11 dauert der präventive Krieg gegen den Terror an. Orient | |
| und Okzident treiben auseinander. Dabei können sie nur gemeinsam gewinnen. | |
| Islamist:innen in Berlin: Zurückgekehrt und teils eingesperrt | |
| Die Rückkehrkoordinierung des Berliner Senats kümmert sich um | |
| IS-Unterstützer:innen. Das Land findet das wichtig – doch die | |
| Bundesförderung läuft aus. | |
| UN-Ermittlung über Jesiden im Irak: Es war ein Genozid | |
| Ein Abschlussbericht zu UN-Ermittlungen legt Beweise vor: Die Verfolgung, | |
| Versklavung und Ermordung von Jesid*innen durch den „IS“ war Völkermord. | |
| Urteil gegen Frau aus Leverkusen: IS-Terroristin muss ins Gefängnis | |
| Ein Düsseldorfer Gericht hat die 35-Jährige zu vier Jahren Haft verurteilt. | |
| Sie war ins IS-Gebiet in Syrien ausgereist und ließ dort eine Jesidin als | |
| Sklavin für sich arbeiten. | |
| Gesetzentwurf in Frankreich: Senat will ans Kopftuch ran | |
| Die Senator:innen haben für Verschärfungen am Gesetz zur „Stärkung der | |
| republikanischen Prinzipien“ gestimmt. Das würde Muslim:innen treffen. | |
| Politologe über Islam in Frankreich: „Ein innerer Feind wird geschaffen“ | |
| Eine Gesetzesvorlage soll Laizität stärken. Doch in Frankreich werde der | |
| Islam nicht nur von Rechten als ausländische Religion betrachtet, sagt | |
| Alain Policar. |