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# taz.de -- Graphic Novel über den Tod eines Kindes: Traurig, aber nicht ungl�…
> Ihr dreijähriger Sohn starb 2015 infolge eines Behandlungsfehlers.
> Illustratorin Melanie Garanin hat daraus die packende Graphic Novel
> „Nils“ gemacht.
Bild: „Dann ein neues Jahr und Nils immer noch tot. Tot. Totototototototototo…
Hamburg taz | Eigentlich sollten Rezensionen nicht in aufgewühltem Zustand
geschrieben werden. Sollte die Autorin, sollte ich warten, bis ich wieder
einen kühlen Kopf habe. Aber so weit kommt es nicht in diesem Fall. Nicht
bei diesem Buch: Den Tod des dreijährigen Nils hat seine Mutter, die
Illustratorin Melanie Garanin, verarbeitet zu einer anrührenden Graphic
Novel. Ihre Motivation: verarbeiten – aber auch aufrütteln, Menschen
ermutigen zum Sprechen über geschehenes Unrecht.
Da stellt sich keine professionelle Abgeklärtheit ein, auch nach zwei-,
dreimal Lesen nicht. Weil es so unerträglich ist, dass ein Mensch, den die
Welt gerade erst kennen- und lieben gelernt hatte, schon gehen muss. Und
das wegen eines Behandlungsfehlers: Nils ist nicht an Leukämie gestorben,
sondern an einer unbehandelten Bauchspeicheldrüsenentzündung – Nebenwirkung
der Chemotherapie.
Aber das sind Details, die die Graphic Novel erst später liefert.
Eingeleitet wird die Geschichte mit einer prophetischen Rückblende: Nils
schaut den Zugvögeln nach, überlegt mitzufliegen wie Nils Holgersson. Aber
„du musst ja hier bei uns bleiben“, sagt die Mutter und hält ihn fest.
Bleiben wird er auch, aber nur als Erinnerung, als postmortale Präsenz: Die
zweite Szene ist ein unvermittelter Schwenk auf den Friedhof.
Wer sich nicht schon informiert hat über Inhalt und Hintergrund des Buches,
taucht ganz unbefangen ein in die Geschichte eines kleinen Jungen, der am
liebsten Ritter spielt und mit Helm auf seinem Pferd durch die Gegend
reitet. Er wird krank und noch kränker, Diagnose: [1][Leukämie.] Ratlos und
verlassen sitzen die Eltern da als Schattenrisse im Krankenhausgang. Der
Arzt dagegen: weit weg, eine Fata Morgana in blassen Linien auf Weiß. Und
von Nils leuchtet nur ein Zeh hervor, zerstochen und vor Infusion rot
leuchtend in der Dunkelheit.
## Arzt lümmelt in bequemen Schlappen
Umso größer der Kontrast: In bequemen Schlappen lümmelt sich der Arzt auf
dem ergonomischen Hocker und rät mal eben zur Knochenmarkspunktion. Und
seine Kollegen teilen den Eltern en passant mit, dass dabei auch gleich ein
Mittel injiziert werde. Je mehr Gesichter, desto weniger Sprache, Einwände
werden durch Hektik geschreddert. Karikiert wirkende Ärzte bringen die
Mutter dazu, in eine „Studie“ einzuwilligen: „Es hört sich logisch an“,
denkt sie, nur halb begreifend. „Die werden schon wissen, was sie tun.“
Die [2][Nebenwirkungen] der Medikamente sind voller Kontraste: „Geh weg“,
faucht Nils, denn „manche Medikamente machen wütend“. Andere machen Wetter:
„Ist so windig hier“, fröstelt das Kind und schaut nach oben; dieser Wind
kann ja nur vom Himmel kommen. Wieder andere machen anschmiegsam: „Ich
liebe dich so sehr, Mama. So sehr.“ Zart streichelt Nils Mamas Gesicht. Es
klingt wie ein Vermächtnis.
Lange vertrauen die Eltern den Ärzten. Zwar fragen sie immer wieder nach,
aber sie bestehen nicht auf sofortigen Untersuchungen oder klaren
Antworten. Stattdessen gehen sie mit Nils trotz dessen unerträglicher
Bauchschmerzen nach Hause: der Oberarzt hat es erlaubt. Nils’ Vater, selbst
Arzt, hat später in einem Interview gesagt, er habe seinen Kollegen nicht
reinreden wollen – Ärzte schätzten so etwas ja nicht.
Dabei haben den Tod des Kindes offenbar alle geahnt, auch seine
Geschwister, wenn sie im Auto fragen, ob Nils sterben könnte. „Nein“,
behauptet die Mutter. „Auf den Gedanken bin ich noch nie gekommen.“ Sie
wendet das Gesicht ab, aber die Kinder spüren trotzdem, dass die lügt; das
ist abzulesen auch auf noch so winzig gezeichneten Gesichtern.
Riesig und unheilvoll dagegen die erneut installierte Infusionsflasche. Wie
eine graue Zylinderbombe hängt sie da, sich unerbittlich leerend wie eine
Sanduhr, Symbol für Vergänglichkeit und Tod.
## Den Energiestöpsel gezogen
Dann der Schlussakt; Nils und seine Mutter im Bett, aus dem er nicht mehr
aufsteht. Eine friedliche, nur ein bisschen überraschende Coda. Denn
sichtbar war die Welt schon am Vorabend in Splitter zerfallen, als die
Mutter – nun ein winziges, vervielfachtes Menschlein aus der
Vogelperspektive – ein letztes Mal mit der Station telefoniert hatte.
Die Leere nach Nils’ Tod ist unerträglich, hat der Familie den
Energiestöpsel gezogen. Es ist heiß, die Geschwister sitzen im Garten
unterm Baum, der Vater lehnt am Gartentor, Ausschau haltend nach irgendwas.
Im Zentrum das Plantschbecken, in dem Nils fehlt. „Wir werden immer traurig
sein“, sagen die Eltern. „Aber lass uns versuchen, nicht immer unglücklich
zu sein.“ Daneben ein Reihe Vögel: „Keiner zwitschert heute. Weitersagen.�…
Ja, so wünscht man sich das.
Und dann kommt das Leben mit der [3][Trauer,] der Kampf um Struktur und
Selbsterhalt. „Ich lerne, so schnell wie möglich nach dem Aufwachen
aufzustehen“, steht unter dem Bild, auf dem die Mutter unter einer düsteren
Wolke ächzt. „Um dem Schmerz keine große Angriffsfläche zu bieten, da sonst
die Gefahr besteht, zerquetscht zu werden“, steht unter dem zweiten. Die
Mutter liegt am Boden, nur ein Auge lugt hervor, die Wolke zerdrückt jedes
Atom im Raum. Sie überlegt sich verbotene Gedanken und Worte: „Warum“ und
„hätte“ gehören dazu.
Die Familie verbringt ein hysterisch fröhliches Weihnachten nach Nils,
wähnt sich auf stabilem Grund. Im Januar dann, ohne Vorwarnung, stürzen sie
ab: senkrecht in eine dunkle Tiefe. Es ist das packendste Bild des Buchs.
„Dann ein neues Jahr und Nils immer noch tot.“ Es folgt kein Erwachen aus
dem Albtraum, sondern das Wachen ist ab jetzt der Alb.
Dann stehen die Eltern wieder auf, nehmen den Kampf auf – gegen das
Schweigen darüber, dass Nils starb, weil die Infusion nicht abgesetzt
worden war und sein Blut nicht auf Entzündungen untersucht. Das Krankenhaus
– die [4][Berliner Charité] – und die Ärzte schweigen. Die Versicherung
zahlt verdächtig schnell. Als der Mutter klar wird, dass Nils’ Tod kein
bloßes Schicksal war, sondern zu vermeiden gewesen wäre: Da senkt sogar die
Stehlampe traurig das Haupt. „Fehler“ steht da in der für das Buch so
typischen Krakelhandschrift, wieder so ein krasser Kontrast, nämlich zu den
Druckbuchstaben-Fachkauderwelsch-Einlassungen, die die Ärzte wie einen
Schutzschild vor sich hertragen.
Warum Ärzte nicht auf Beerdigungen gehen? „Ich kannte den Patienten nicht“,
sagt ein Ärztekopf; „Ich verkrafte keine Beerdigungen“ ein anderer. „Wel…
Beerdigung?“, fragt der dritte.
## Kein Rachefeldzug gegen die Ärzte
Trotz alldem ist das Buch kein Rachefeldzug gegen die Ärzteschaft. Es ist
Verarbeitung und Erfahrungsbericht, auch die Suche nach Gerechtigkeit, wo
Gutachten und Klagen gescheitert sind. Es ist ein Dokument der Erfahrung,
dass Ärzte und Justiz oft zusammenhalten gegen Wehr- und Lobbylose.
Am Schluss geht es den Eltern nicht mehr nur um Nils. Sondern um alle, die
Opfer solcher Fehler werden können – wenn die strukturellen Ursachen nicht
behoben werden. Weil das so ist und weil sie und ihr Mann in allen
Instanzen verloren, nicht recht bekommen haben und nicht mal eine
Entschuldigung: Deshalb wählt die Kinderbuch-Illustratorin Melanie Garanin
ihren eigenen, einen künstlerischen Weg, um die Sache öffentlich zu machen
– und Überlebenshilfe zu bieten: Am Schluss kommt doch tatsächlich Nils’
Ritterarmee des Weges, zieht mit der Familie vors Krankenhaus und macht der
Ärzte- und Juristenschaft den Garaus.
Danach ist es endlich wieder nilsgelb und sonnenblumenhell. Die imaginierte
Genugtuung hat der Familie das Weiterleben erträglicher gemacht. „Nicht um
das Verlorene herum leben“, heißt es fast ganz zum Schluss, „sondern es mit
Leben füllen.“
25 Apr 2021
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## AUTOREN
Petra Schellen
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