| # taz.de -- Wenn ÄrztInnen Fehler machen: Pfusch oder Behandlungsrisiko? | |
| > Opfer von vermeintlichen Behandlungsfehlern müssen selbst nachweisen, | |
| > dass der Arzt Schuld trägt. Betroffene wollen die Beweislast umkehren. | |
| Bild: Wer ist schuld, wenn hier etwas schiefgeht? OP im Virchow-Krankenhaus der… | |
| Berlin taz | Am Anfang sah das Problem zwar ernst, aber nicht | |
| lebensbedrohlich aus: Im Herbst 2017 werden bei Heidi Zillner zwei Tumore | |
| am rechten Eierstock diagnostiziert. Die Wucherungen sind zwar gutartig, | |
| wachsen aber dennoch schnell. Der Frauenarzt, der die Tumore entdeckt, | |
| operiert selbst: Er schneidet die entsprechenden Stellen aus Zillners | |
| Körper heraus. | |
| Als Zillner, die in der Nähe von Passau lebt, am Tag ihrer Entlassung aber | |
| mit starken Schmerzen wieder in die Klinik eingeliefert wird, befindet sie | |
| sich plötzlich in akuter Lebensgefahr: Sie hat Stuhl im Bauchraum und | |
| erleidet in der Folge eine Blutvergiftung. 18 Zentimeter Dickdarm werden | |
| ihr entfernt, die Ärzt*innen legen einen künstlichen Darmausgang. Zillner | |
| überlebt nur knapp. Später wird sie im Ambulanzbericht lesen, dass der Darm | |
| bei der ersten OP verletzt worden ist, in der ihr die Tumore aus den | |
| Eierstöcken entfernt wurden. | |
| Zillner wendet sich an ihren Frauenarzt, will Entschädigung. Doch einen | |
| Fehler gibt der Mann nur in einem ersten Vier-Augen-Gespräch zu. Später | |
| blockt er ab. In der Folge beginnt Zillner rechtlich gegen den Mann | |
| vorzugehen. | |
| Zu den daraus folgenden juristischen Streitereien kommen die psychischen | |
| und physischen Folgen der Operation. Noch heute leidet sie darunter. | |
| Phantomschmerzen im Bauch, Verdauungsprobleme, die ständige Angst vor einem | |
| Dünndarmverschluss. Erst seit April dieses Jahres kann Zillner wieder | |
| arbeiten, sie ist in der Altenpflege tätig. Beim Medizinischen Dienst der | |
| Krankenkassen (MDK) hat sie im September 2018 ein kostenloses Gutachten | |
| angefordert. Auf das Ergebnis der Untersuchungen wartet sie noch. Doch auch | |
| wenn die Sachverständigen tatsächlich feststellen, dass ihrem Arzt ein | |
| Behandlungsfehler unterlaufen ist, hätte sie nicht ohne Weiteres ein Recht | |
| auf Schadenersatz. | |
| ## Ein kausaler Zusammenhang ist schwer zu beweisen | |
| Das Problem: Vermutet eine Patient*in, Opfer von ärztlichem Fehlverhalten | |
| zu sein, muss er nicht nur den Behandlungsfehler und den Gesundheitsschaden | |
| nachweisen, sondern auch, dass zwischen beiden ein kausaler Zusammenhang | |
| besteht. Dabei ist in der Praxis schon der Grat zwischen möglichen Risiken | |
| bei Operationen und einem Behandlungsfehler schmal. Viele Patient*innen | |
| scheitern deshalb beim Versuch, Entschädigung zu erstreiten. | |
| Horst Glanzer will, dass sich das ändert. [1][Der Aktivist aus Bayern] | |
| kämpft [2][seit Jahren für die Rechte von Patient*innen] in Deutschland und | |
| konnte bereits zahlreiche Gesetzesänderungen herbeiführen. Im September | |
| 2017 hat er eine Petition beim Bundestag eingereicht und fordert darin eine | |
| Beweislastumkehr: Nicht die Patient*innen müssen nachweisen, dass die | |
| Ärzt*innen einen Fehler begangen haben, sondern die Ärzt*innen müssen | |
| beweisen, dass sie richtig behandelt haben. | |
| Der Bundestag hat die Petition am 27. September 2018 an die Bundesregierung | |
| überwiesen. Die Einjahresfrist, die dem federführenden Justizministerium | |
| zur Stellungnahme bleibt, ist vorbei. | |
| Wie viele Menschen von der Änderung profitieren würden, ist nicht klar. | |
| Denn in Deutschland gibt es keine bundesweite Statistik zu | |
| Behandlungsfehlern. Die meisten Gutachten, über 14.000 waren es im | |
| vergangenen Jahr, erstellt der Medizinische Dienst. Dessen Gutachter*innen | |
| kamen in knapp 2.800 Fällen zu dem Schluss, dass ein Fehler der Ärzt*in | |
| zweifelsfrei zu den körperlichen Beschwerden der Betroffenen führte. | |
| ## Die Dunkelziffer ist hoch | |
| Die Landesärztekammern fertigen ebenfalls Gutachten an. In der Statistik | |
| für 2018 sind 1.500 Fälle verzeichnet, in denen die Gutachter*innen einen | |
| Kausalzusammenhang zwischen ärztlichen Behandlungsfehlern und späteren | |
| Beschwerden anerkannten. In der Summe sind es also 4.300 Fälle, bei denen | |
| klar Behandlungsfehler vorlagen. | |
| Doch diese Zahlen beziehen sich ausschließlich auf die Fälle, in denen | |
| Patient*innen den Medizinischen Dienst oder die Ärztekammern einschalteten. | |
| Wer etwa den Weg über einen Anwalt oder eine Anwältin geht, taucht nicht | |
| auf. „Die Zahlen stellen nur einen winzigen Bruchteil der Fälle dar, von | |
| denen wir ausgehen“, konstatiert Gunnar Duttge, Professor für | |
| strafrechtliches Medizin- und Biorecht an der Universität Göttingen. | |
| Als Freunde Heidi Zillner während ihrer Krankenzeit an den Aktivisten | |
| Glanzer vermitteln, erfährt sie von der Petition. Den Tag der offenen Tür | |
| der Bundesregierung am 17. August wollte sie in Absprache mit ihm nutzen, | |
| um Politiker*innen vor Ort von der Notwendigkeit des Vorhabens überzeugen: | |
| Von der Patientenbeauftragten im Bundesgesundheitsministerium will Zillner | |
| zum Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und schließlich ins | |
| Bundeskanzleramt. Doch weder die Patientenbeauftragte Claudia Schmidtke | |
| (CDU) noch der angekündigte Mitarbeiter im Bundeskanzleramt stehen zur | |
| Verfügung. Auch der zuständige Referent des Justizministeriums ist nicht im | |
| Haus. | |
| Immerhin erwischt Zillner aber Justizministerin Christine Lambrecht nach | |
| einem Bühnengespräch. Zillner verweist auf die Petition und ihr Schicksal, | |
| übergibt ihr eine Mappe mit Dokumenten und Fotos. Die SPD-Politikerin kennt | |
| die Petition – und dämpft die Erwartungen. „Die Stellungnahmen, die mir | |
| vorliegen, legen nahe, dass die bisherigen Regelungen sehr ausgewogen | |
| sind.“ | |
| ## Wichtig wäre vor allem eine andere Fehlerkultur | |
| Sie nennt verschiedene negative Folgen einer Beweislastumkehr: das | |
| Problem der Beweisführung im medizinischen Bereich, der hohe | |
| Dokumentationsaufwand, die Gefahr, dass Ärzt*innen die haftungsrechtlich | |
| sicherste Variante statt die vielleicht medizinisch gebotene wählen. | |
| Außerdem gebe es bereits Beweiserleichterungen. Die Mappe nimmt die | |
| Ministerin aber trotzdem mit. | |
| Tatsächlich stehen die Chancen für Glanzers und Zillners Anliegen schlecht. | |
| Lambrechts Argumentation deckt sich mit der Beschlussempfehlung des | |
| Petitionsausschusses des Bundestages. Karin Maag, Gesundheitspolitikerin | |
| der CDU, warnt vor einem „Dokumentationsverpflichtungswahn, um bei | |
| Schadenersatzklagen exkulpieren zu können“. | |
| Die Patientenbeauftragte Claudia Schmidtke hat wie ihre Vorgänger*innen | |
| zumindest gefordert, den Kausalitätsnachweis zu erleichtern: Muss | |
| gegenwärtig der Fehler mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit ursächlich für | |
| den Schaden sein, soll zukünftig eine Wahrscheinlichkeit von 51 Prozent | |
| reichen. Für diese Änderung plädiert auch der Medizinische Dienst. Max | |
| Skorning, der die Arbeit des MDK für den Spitzenverband der gesetzlichen | |
| Krankenkassen kontrolliert, hält fest: „Diese Regelung wäre für Betroffene | |
| besser. Sie scheitern oft nach langen Prozessen an der Kausalitätsvorgabe.“ | |
| Doch selbst danach sieht es nicht aus, wie die Aussagen von Lambrecht und | |
| Maag nahelegen. Lediglich die Fraktionen der Linken und der Grünen gehen | |
| über die Forderungen der Patientenbeauftragten hinaus. Sie wollen weitere | |
| Beweiserleichterungen im Sinne des Patientenrechtegesetzes – auch bei | |
| einfachen Behandlungsfehlern. | |
| Im Patientenrechtsgesetz ist geregelt, dass in bestimmten Fällen der | |
| Kausalitätsnachweis erleichtert wird, zum Beispiel bei groben | |
| Behandlungsfehlern, wenn etwa eine Schere bei der OP im Körper vergessen | |
| oder ein auf dem Röntgenbild sichtbarer Bruch übersehen wurde. Der oder die | |
| Patient*in muss dann „nur noch“ beweisen, dass ein solcher Fehler vorliegt | |
| und dass dieser grundsätzlich zu dem eingetretenen Schaden geführt haben | |
| kann. Dann wechselt die Beweislast. Es ist dann an der Ärzt*in zu belegen, | |
| dass sein Fehler nicht ursächlich für den Schaden war. Manuela Rottmann, | |
| Rechtspolitikerin der Grünen, sagt: „Wir wollen, dass die Beweisführung für | |
| Patienten erleichtert wird. Was in der Petition gefordert wird, macht die | |
| Haftung des Arztes dagegen zum Regelfall.“ | |
| Auch Experte Gunnar Duttge von der Uni Göttingen ist skeptisch, was die | |
| Petition betrifft. „Man kann darüber diskutieren, ob es weitere Fälle gibt, | |
| bei denen eine Erleichterung des Kausalitätsnachweises sinnvoll ist“, so | |
| der Wissenschaftler. Eine flächendeckende Ausweitung lehnt er aber ab. | |
| Duttge betont, dass es auf anderen Feldern Handlungsbedarf gebe. | |
| Entscheidend sei vor allem die Etablierung einer anderen Fehlerkultur in | |
| den Krankenhäusern und ein besseres Fehlermanagement. Doch auch diese | |
| Reformen sind nicht in Sicht. Für Zillner, Glanzer und viele andere bleibt | |
| wenig Hoffnung. Dennoch meint Zillner nach ihrem Berlin-Besuch: „Ich habe | |
| zumindest alles Menschenmögliche versucht.“ | |
| 9 Oct 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ein-Mann-Lobby-Horst-Glanzer/!5039371 | |
| [2] https://www.bettelarmwegenrechtsbeuger.info/ | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Kitzmann | |
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