| # taz.de -- Forscherin über Debattenkultur: „Demokratie ist Infragestellung!… | |
| > Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff forscht zum Zusammenhalt in | |
| > der Gesellschaft. Sie erklärt, was die Pandemie für die Demokratie | |
| > bedeutet. | |
| Bild: Wie mit denen umgehen, die sich dem rationalen Diskurs verweigern? | |
| taz: Frau Professorin Deitelhoff, das Institut, für das Sie sprechen, trägt | |
| in seinem Namen einen Begriff, von dem in der [1][Coronapandemie] viel die | |
| Rede ist. Warum hat man außer einem knappen Factsheet zu Protesten noch | |
| nichts zum gesellschaftlichen Zusammenhalt gehört oder gelesen? | |
| Nicole Deitelhoff: Das Institut ist nach einer langen Anlaufphase erst spät | |
| im Juni 2020 gegründet worden. Wir sind dezentral organisiert und auf 11 | |
| Standorte im Bundesgebiet verteilt. Auch unser Zusammenhalt hat in der | |
| Pandemie gelitten. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten erst | |
| eingestellt werden. Jeden Tag passiert ein bisschen mehr, was aber noch | |
| wenig sichtbar ist. Als nächstes wird unsere Forschung zu Corona und | |
| Zusammenhalt online gehen, so dass man schnell und zentral finden kann, was | |
| wir im FGZ an Expertise und Transfer bieten. | |
| Anfangs war das Institut als ein politikberatendes intendiert. | |
| Gute Politikberatung braucht gute Forschung. Ja, anfangs war das FGZ als | |
| reine Politikberatung gedacht und keine Forschung vorgesehen. Mittlerweile | |
| steht beides gleichberechtigt nebeneinander. | |
| Ihr Forschungsfeld in Frankfurt ist die politische Konfliktregulierung | |
| anhand der ausgewählten Beispiele der religiösen Diversität und | |
| umstrittener Infrastrukturmaßnahmen. Administrative Regulierungen in der | |
| Coronakrise haben nun gerade nicht zu mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt | |
| geführt. | |
| Die Coronakrise ist ja nicht die erste Krise, mit der wir als Gesellschaft | |
| umgehen müssen. Massive Krisenerfahrungen, begonnen mit der Weltfinanzkrise | |
| Ende der 2000er Jahre, haben die beklagten Gräben mit aufgeworfen. Viele | |
| Menschen fühlen sich massiv verunsichert. Ihnen sind die Gewissheiten | |
| verloren gegangen, ihre Zukunft, ihr Vorankommen, ihre Position in der | |
| Gesellschaft betreffend. | |
| Das trägt mit Verantwortung für die Entfremdung und Polarisierung, die wir | |
| beobachten. Unser Forschungsprojekt fragt, wie politische Konflikte | |
| bearbeitet und ausgetragen werden müssen, damit sich die Polarisierung | |
| nicht vertieft, ja Bürgerinnen und Bürger sogar mehr Vertrauen zueinander | |
| entwickeln können. | |
| Teilen wir mit den Regierenden seit einem Jahr nicht das Dilemma, dass wir | |
| uns wie nie zuvor auf Experten verlassen müssen? | |
| Das sehe ich anders. Erstens war die Regierung nie kompetent in diesem | |
| Sinn. Sie hat immer Experten benötigt. Die Experten, und das war auch immer | |
| so, wissen nicht, was richtig ist, was politisch zu tun ist. Sie wissen | |
| nur, wie die Daten aussehen und können sie interpretieren. Diese zu nutzen | |
| und in politisches Handeln zu übersetzen bleibt Aufgabe der Politik. Auch | |
| wenn die das manchmal gar nicht möchte und die Verantwortung gern an | |
| Experten abgeben würde. Das hat noch nie funktioniert und funktioniert auch | |
| jetzt nicht. | |
| Die Ermüdung, die Sie vielleicht meinen und die ich auch beobachte, hängt | |
| mit der Länge der Pandemie zusammen. Bürgerinnen und Bürger fühlen sich | |
| immer wieder genötigt, über Expertenmeinungen zu streiten und darüber, was | |
| das nun im Einzelnen für die Politik bedeutet, ohne dass es spürbar | |
| vorangeht. Auch wir können also nicht einfach Verantwortung delegieren und | |
| sagen, die machen das schon. Wir müssen uns immer weiter in diese | |
| Auseinandersetzung einbringen. | |
| Statt von Ermüdung könnte man auch von Resignation sprechen. Oder von einem | |
| Rückfall in ungehemmten Narzissmus und Egoismus | |
| Das Bild ist sehr gemischt. Ich sehe Resignierte, die sich komplett | |
| abgewendet haben und sich in einem Neobiedermeier ihre eigene Welt | |
| schaffen. Die verwandeln sie in einen Wellnesstempel, lassen die | |
| öffentliche Sphäre überhaupt hinter sich und schotten sich ab. Aber es sind | |
| nicht alle still geworden. Das erkennt man schon an der Zahl der Kommentare | |
| und am Widerspruch. | |
| Leben wir in einer Phase, in der wir gar nicht anders können, als | |
| medizinischen Experten und politischen Entscheidern zu vertrauen? | |
| Auf gar keinen Fall. In jeder Phase und gerade in einer Krise der | |
| Demokratie ist grenzenloses Vertrauen die falsche Medizin. Egal, worum es | |
| geht. Eine Demokratie lebt von einem gehörigen Anteil Misstrauen gegenüber | |
| dem, was „die da oben“ wollen. Demokratie heißt, uns einzumischen, | |
| nachzufragen und nachzuhaken und immer wieder Rechtfertigung zu verlangen | |
| für das, was man uns abverlangt. Gerade in der Krise dürfen wir genau das | |
| nicht aufgeben. | |
| Können wir ausgerechnet in dieser Phase die verlorene Streitkultur wieder | |
| lernen und praktizieren? | |
| Die Krise, die Pandemie selbst kann keinen kultivierten Streit | |
| hervorbringen. Sie hat ihn nur sichtbarer und notwendiger gemacht. Wir | |
| müssen wieder Streitkultur lernen. Können wir so mit Widersprüchen umgehen, | |
| dass wir danach immer noch miteinander die gemeinsamen Institutionen | |
| besuchen können, dass wir uns weiterhin über dem Gartenzaun die Hand | |
| reichen können? Diese Fähigkeit ist wohl lange zuvor in einer allgemeinen | |
| Wohlstandsblase abhanden gekommen. | |
| Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer musste sich dafür | |
| rechtfertigen, auch mit [2][Corona-Ignoranten] zu reden. | |
| Auch ich führe häufig solche Debatten. Was bringt es, fragt man sich, mit | |
| Menschen zu streiten, die schon die Grundlage eines gemeinsamen | |
| Streitthemas bestreiten? Ich gebe daraufhin immer die Antwort, dass es in | |
| einem solchen Streit nicht primär um ein konkretes Gegenüber geht, das ich | |
| zu überzeugen versuche. Wichtiger sind jene, die den Disput beobachten, die | |
| davon etwas mitnehmen könnten. Die will ich überzeugen, denen will ich | |
| zeigen, dass es sich lohnt, sich argumentativ auseinanderzusetzen. | |
| Deswegen finde ich den Ansatz von Herrn Kretschmer gut, ebenso aber seine | |
| aufgezeigten Grenzen, die rote Linie. Mit denen, die nicht einmal mit dem | |
| kleinen Zeh auf dem Boden unserer Verfassung stehen, rede auch ich nicht. | |
| Es werden aber immer mehr, die sich in ihrem Bauchgefühl nur ungern von | |
| Fakten irritieren lassen. | |
| So ermüdend es ist und manchmal ans Eingemachte geht, müssen wir | |
| nichtsdestoweniger dranbleiben. Sie werden Verschwörungstheoretiker nicht | |
| mit Fakten überzeugen, sondern nur verhärten. Aber ich wiederhole: Die | |
| verunsicherten Zuhörer, die vielen, die in der Krise nach Autorität und | |
| Sicherheit suchen, die können wir erreichen. Denen zeigen wir mit | |
| Streitkultur in diesem Moment auch eine Alternative. Wir bauen und arbeiten | |
| damit an den normativen Grundlagen, die wir später im Streit wieder nutzen | |
| wollen. | |
| Auf eine unerreichbare Minderheit müssen wir dann verzichten … | |
| Wir verzichten nie in der Demokratie, sondern arbeiten uns immer wieder | |
| aneinander ab. Es gibt keine Demokratie, in der 100 Prozent aller | |
| Bürgerinnen und Bürger einer Meinung sind. Und dieser Widerstand bringt | |
| auch die Mehrheit dazu, immer wieder zu fragen, ob wir auf dem richtigen | |
| Weg sind. Demokratie ist Infragestellung! | |
| Sehen Sie Bürgerräte gerade in der Coronakrise als eine Möglichkeit der | |
| Politikberatung durch unterschiedlichste Bürger an? | |
| Weniger politikberatend. Sie erzeugen eher sinnliche, teils verloren | |
| gegangene Demokratieerfahrung, aber man sollte keine überzogenen | |
| Erwartungen wecken. Natürlich kommen dabei im idealen Fall auch neue | |
| Ansätze, neue Ideen in die Politik. | |
| Früher, etwa bei Flughafenerweiterungen, wurden solche | |
| Bürgerbeteiligungsverfahren ja geradezu hochstilisiert in der Hoffnung, die | |
| würden solche Konflikte auflösen und konsensuale Entscheidungen | |
| ermöglichen. Das können die natürlich gar nicht. Sie können die Fakten noch | |
| mal prüfen, neue Erkenntnisse voranbringen, aber das ist schon eine ganze | |
| Menge. | |
| Was erwartet uns in der „Zeit danach“? Werden wir aus der kollektiven | |
| Verzichtserfahrung etwas gelernt haben? | |
| Auf der einen Seite werden wir vermutlich eine neue Welle der Geselligkeit | |
| sehen, sollte wieder ein Sommer ohne Restriktionen kommen. Die Menschen | |
| lechzen nach Gemeinschaft, nach kollektiven Erfahrungen. Aber wir würden | |
| wohl auch einen ernüchternden Herbst sehen, in dem es eine Art Backlash | |
| geben kann. Dann steht die Frage an, wohin es eigentlich geht und was von | |
| Corona geblieben ist. | |
| Dann müssen Politik und gesellschaftliche Kräfte diesen Herbst nutzen, um | |
| aus Corona etwas zu lernen, um vielleicht pandemieerprobte Formen des | |
| Miteinanders, auch der Auseinandersetzung auf Dauer zu stellen. Der Herbst | |
| 21 wird die große Herausforderung für den demokratischen Zusammenhalt. | |
| 20 Apr 2021 | |
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| Michael Bartsch | |
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