| # taz.de -- Die Wahrheit: Unsichtbar an der Theke | |
| > Was macht der Wirt vom Café Gum bloß ohne seine Gäste? Will der Grieche | |
| > seinen Laden zumachen und in die Heimat zurückkehren? | |
| Bild: Jahrzehntelang konnten in diesen kleinen Kiosken die unterschiedlichsten … | |
| Das Handy summte, und Raimund war dran. „Moin“, sagte ich, „was gibt’s?… | |
| „Wo bist du?“ – „Wo soll ich um diese Zeit sein? Spazieren natürlich.�… | |
| Seitdem wir wegen des Lockdowns abends nicht mehr an der Theke des Café Gum | |
| stehen durften, vertrieb ich mir die leeren Stunden mit Spaziergängen durch | |
| die Dunkelheit. | |
| „Komm zum Gum!“, sagte Raimund. „Zum Gum? Bist du irre?! Als du das letzte | |
| Mal zu lange in den leeren Laden gekuckt hast, warst du hinterher so | |
| traurig, dass du vier Sitzungen beim Therapeuten gebraucht hast!“ – „Aber | |
| das Licht ist an! Ich habe Angst, dass Pete seine Siebensachen packt und | |
| sich verpisst. Stell dir vor, er würde das Gum zumachen und uns hier | |
| alleine lassen!“ | |
| Noch nie hatte Petris, Gumwirt und Grieche, die endlosen deutschen Winter | |
| gut verkraftet, aber dieses Jahr war es besonders schlimm. „Nur ein Idiot | |
| lebt fern vom Mittelmeer – vor allem, wenn ihm ein Haus direkt am Strand | |
| gehört!“, hatte er neulich gesagt. Glaubte man ihm, strahlte die Sonne | |
| selbst im tiefsten Januar zu allen Fenstern gleichzeitig herein. | |
| Zehn Minuten später traf ich am Gum ein. Raimund drückte sich die Nase an | |
| einem der Fenster platt. „Was siehst du?“, fragte ich. „Die Autogrammkarte | |
| von Anthony Quinn hängt jedenfalls noch an der Wand. Die würde er niemals | |
| dalassen. Sieht aus, als ob er irgendwelchen unsichtbaren Gästen Getränke | |
| serviert.“ | |
| Ich spähte durch das zweite Fenster. „Das sind nicht irgendwelche Gäste“, | |
| sagte ich, „das sind wir! Sogar das affige glutenfreie Kölsch, das Rudi, | |
| der Blödmann, neuerdings trinkt, steht auf der Theke.“ | |
| Es war wie bei „Dinner for One“. Bloß ohne Tigerfell. | |
| „Er sieht happy aus“, seufzte Raimund, „scheint ein lustiger Abend zu | |
| sein.“ – „Er hat sogar die ‚Wilco‘-Platte mit den Rarities aufgelegt,… | |
| du?“, sagte ich: „Und jetzt …“ – „O Gott, er holt den Imiglykos!“, | |
| unterbrach er mich. | |
| An hohen Feiertagen – an Anthony Quinns Geburtstag zum Beispiel – brachte | |
| uns Petris den Wein seines Vaters. Es war ein schauderhaftes süßes Zeug, | |
| doch weil er so stolz auf den Stoff war, tranken wir die Gläser lächelnd | |
| leer. Alle, bis auf Raimund, der die Miene verzog und jedes Mal den Abend | |
| ruinierte. Meistens schmiss Petris ihn dann achtkantig raus. | |
| Raimund merkte, dass ich ihn strafend ansah. „Okay“, sagte er kleinlaut, | |
| „nach fünf Monaten Gum-Entzug würde ich vielleicht eine Ausnahme machen und | |
| … Scheiße, er kommt!“ Wir sahen, dass Petris wütend zum Ausgang stampfte, | |
| und konnten uns gerade noch hinter den Mülltonnen verstecken, damit er uns | |
| nicht entdeckte. Eine Sekunde später flog die Tür auf, und Petris schubste | |
| einen unsichtbaren Gast hinaus. „Du hast meinen Vater beleidigt! Und mich! | |
| Und überhaupt ganz Griechenland!“, schimpfte er. „Raus mit dir!“ | |
| Er knallte die Tür zu, das Licht ging aus, und auf dem Heimweg blieb | |
| Raimund lange schweigend vor dem Praxisschild seines Therapeuten stehen. | |
| 22 Apr 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Joachim Schulz | |
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