# taz.de -- Rückschlag für den Pressevertrieb: Ein Abschied für Immer | |
> Die grünen Ruch-Zeitungskioske in Polen werden bald verschwinden. Sie | |
> weichen kleinen Fastfoodläden. Damit geht eine über 100-jährige Ära zu | |
> Ende. | |
Bild: Jahrzehntelang konnten in diesen kleinen Kiosken die unterschiedlichsten … | |
Warschau taz | Pani Basia ist eine Institution in Warschau-Mokotow. Dabei | |
ist die Kioskbesitzerin mit den schulterlangen weißen Haaren keineswegs | |
immer nur gut gelaunt. Im Gegenteil; wenn der Haussegen schief hängt, sie | |
tagelang der bestellten Ware hinterhertelefonieren muss oder sie Ärger mit | |
ihren Chefs hat, kriegen auch die KundInnen schon mal ihren Unmut zu | |
spüren. So zumindest war es bisher. Bis zum Monatsende muss die über | |
60-Jährige nun plötzlich ihren Kiosk schließen. Angeblich, so heißt es in | |
der offiziellen Begründung des Stadtamtes von Warschau, sei der Kiosk ein | |
Hindernis auf dem Bürgersteig. | |
In den 18 Jahren zuvor hatte sich nie jemand vom Amt bei Pani Basia | |
beschwert. Coronabedingt lag das Kündigungsschreiben fast drei Monate in | |
der Firmenzentrale der Ruch-Kioskkette. Für jeden Einspruch ist es nun zu | |
spät. „Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll“, sagt sie mit | |
tränenerstickter Stimme und reicht die letzte Zeitung über den | |
Verkaufstresen: „Der Kiosk ist doch mein Leben, meine Existenz. Und jetzt | |
stehe ich vor dem Nichts!“ | |
In Polen geht eine Ära zu Ende: die über 1.000 grünen Kioske des | |
Pressevertriebs Ruch wird es schon bald nicht mehr geben. [1][Der | |
Mineralölkonzern Orlen], der im November 2020 die Ruch-Kioskkette | |
schluckte, will nun in ganz Polen kleine Läden mit Kaffeeecken, Softdrinks, | |
Hotdogs und ein paar Zeitungen aufstellen. | |
Dass dabei Hunderte Kioskbesitzer von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit | |
verlieren würden – davon war nie die Rede. Pani Basia hatte sich auf einen | |
neuen Kiosk gefreut, denn die Metallkonstruktion von 2007 war inzwischen | |
von Rost angefressen, die hellen Alurollläden mit Graffiti beschmiert und | |
die Klimaanlage störanfällig. | |
## Kein Pressevertrieb | |
Zwar war der Gedanke daran, dass sie demnächst statt Zeitungen, | |
Zeitschriften, Zigaretten, Getränken und Knabberzeug vor allem | |
Orlen-Würstchen wie an einer Tankstelle verkaufen sollte, | |
gewöhnungsbedürftig, doch sie hatte in ihrem Leben schon ganz andere | |
Situationen gemeistert. Zweifel kamen ihr erst, als sie Fotos mit den | |
Orlen-Zeitungsständern sah. Während sie in ihrem Kiosk weit [2][über | |
hundert Tages-, Wochen- und Monatsblätter] im Angebot hatte und auch mal | |
Sonderbestellungen für KundInnen erledigte, steckten in dem Orlen-Regal auf | |
dem Foto gerade mal ein Dutzend Titel. Mit Pressevertrieb hat das nichts | |
mehr zu tun. | |
„Ich kann auf so eine Orlen-Würstchenbude gut verzichten“, sagt ein älter… | |
Herr und zieht vor Pani Basia seine karierte Schiebermütze. „Der Kiosk | |
steht hier schon fast hundert Jahre, immer mal wieder ein neueres Modell | |
natürlich. Aber jetzt zu behaupten, dass er langfristig nicht an dieser | |
Stelle stehen kann, weil er zu viel Platz auf dem Bürgersteig einnimmt, ist | |
doch absurd“, schüttelt der 73-jährige Dolmetscher den Kopf. Er komme jeden | |
Tag zweimal mit seinem Dackel vorbei. „Und am Kiosk treffe ich meist | |
Bekannte von nebenan, mit denen ich ein paar Worte wechseln kann. Das ist | |
eine schöne Warschauer Tradition, die ich nicht missen möchte.“ | |
Der Experte für slawische Sprachen schüttelt den Kopf. „In der letzten Zeit | |
sind hier in der Gegend schon so viele Zeitungskioske verschwunden: an der | |
Madalińskistraße, der Opoczyńska, der Kielecka, an der Rakowieckastraße am | |
Metroausgang, und jetzt auch hier“, klagt er. „Wo sollen wir denn demnächst | |
unsere Zeitungen kaufen?“ Natürlich habe er auch die eine oder andere | |
Zeitung als E-Paper abonniert. „Aber was ist ein gutes Frühstück ohne | |
frischen Kaffee, ein knuspriges Brötchen und die druckfrische Gazeta | |
Wyborcza mit den neuesten Nachrichten aus aller Welt?“ | |
## Firma Ruch hat eine bewegende Geschichte | |
Die Firma Ruch hat eine bewegende Geschichte hinter sich. Im Jahr 1918, | |
nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Wiedererlangung der staatlichen | |
Souveränität durch Polen, gründeten die bekannten Warschauer Verleger und | |
Buchhändler Jan Gebethner und Jakub Mortkowicz die Polnische Gesellschaft | |
der Bahnhofsbuchhandlungen, Ruch. Außer Zeitungen und Büchern in | |
verschiedenen Sprachen konnte man dort auch Zigaretten, Seife und | |
Reiseutensilien kaufen. Das Konzept war so erfolgreich, dass schon nach | |
nur einem halben Jahr 60 Bahnhofskioske existierten. Im Jahr 1935 bestand | |
die Ruch-Kette aus über 700 Verkaufsstellen und gehörte zu den größten | |
Unternehmen Polens. | |
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Ruch verstaatlicht und nach Übernahme | |
weiterer Pressegrossisten und Verlage zum Großkonzern mit dem seltsamen | |
Namen „Arbeitergenossenschaft der Verlage Prasa-Książka-Ruch“. Von 2005 b… | |
2011 war Ruch an der Warschauer Wertpapierbörse gelistet und konnte mit dem | |
neuen Geld einen kompletten Relaunch durchziehen. Nach dem Verkauf der | |
letzten staatlichen Aktien an einen US-amerikanischen Hedgefonds begann der | |
Niedergang des Pressegrossisten. | |
Vor der endgültigen Pleite rettete Ruch 2020 der vom polnischen Staat | |
kontrollierte Mineralölkonzern Orlen. Dennoch ist die Zukunft von Ruch, der | |
über 4.500 Zeitungen, Zeitschriften und Comics im Angebot hat und | |
regelmäßig 15.000 Verkaufspunkte beliefert, noch nicht gesichert. Im ersten | |
neuen „Orlen-Laden mit Gastro-Ecke“ ist das Firmenlogo von Ruch bereits | |
durch das neue Logo „Orlen w ruchu“ (Orlen in Bewegung) ersetzt. Das | |
Angebot an Zeitungen und Zeitschriften findet auf einem kleinen Ständer | |
Platz. | |
## Großteil der Chefredakteure ist entlassen | |
Kritiker werfen dem Konzern, der vor einem halben Jahr auch 20 | |
Regionalzeitungen, 120 lokale Wochenblätter und rund 500 Internetportale | |
gekauft hat, vor, die Pressefreiheit in Polen beschränken zu wollen. Der | |
Großteil der Chefredakteure in den Regionalzeitungen wurde bereits | |
entlassen und durch Journalisten ersetzt, die in der Vergangenheit durch | |
ihre Nähe zur nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und | |
Gerechtigkeit (PiS) auffielen. Jetzt werden die Zeitungskioske des bislang | |
wichtigsten Pressegrossisten liquidiert. Wenn Polens Zeitungsverlage kein | |
eigenes Vertriebsnetz aufbauen, werden sie bald auf einem Großteil ihrer | |
Auflage sitzen bleiben. | |
Als der Dolmetscher von Weitem eine kleine Frau auf den Kiosk zukommen | |
sieht, verabschiedet er sich hastig: „Wir sehen uns, Pani Basia! Lassen Sie | |
sich nicht unterkriegen! Auf Wiedersehen!“ Die Kioskbesitzerin winkt ihm | |
nach, dreht sich dann um und streckt Pani Irena ihre leeren Hände entgegen: | |
„Der Kiosk ist schon zu. Ich habe heute keine einzige Zeitung mehr | |
bekommen. Nichts!“ Sie deutet auf die halb herunter gelassenen Rollläden: | |
„Da sehen Sie. Ich habe schon alles ausgeräumt.“ | |
Die 70-jährige Rentnerin nickt. „Werden Sie denn demnächst an einem anderen | |
Kiosk arbeiten? Dann komme ich da hin.“ Pani Basia reibt sich die rot | |
verquollenen Augen: „Nein, ich bin jetzt arbeitslos. Zum zweiten Mal in | |
meinem Leben. Wer weiß, ob ich überhaupt noch etwas Neues finde in meinem | |
Alter!“ Die Rentnerin Pani Irena setzt sich auf die Holzbank unter der | |
großen Kastanie vor dem Kiosk: „Ich weiß wirklich nicht, was die Deutschen | |
ständig von uns wollen. Was müssen die sich immer in unser Leben | |
einmischen? Wir haben die Unabhängigkeit erkämpft und wollen jetzt uns | |
selbst regieren.“ | |
## Keine Energie für mehr für Diskussionen | |
Die Kioskbesitzerin versucht, das Gespräch in eine andere Richtung zu | |
lenken: „Sie haben so viele Zeitungen bei mir gekauft. Vielen herzlichen | |
Dank dafür!“ Doch Pani Irena ist nicht zu bremsen: „Wir sollen Knechte der | |
Deutschen sein und nur die schlechteste Arbeit machen. Und sie sind die | |
Herren. Aber das lassen wir uns nicht mehr bieten!“ Pani Basia kennt die | |
Deutschenschelte ihrer alten Kundin schon, fragt sie nun aber doch | |
verständnislos: „Was hat das mit meinem Kiosk zu tun?“ Die Rentnerin | |
richtet sich kerzengerade auf: „[3][Lesen Sie doch die Zeitungen! Da steht | |
es jeden Tag drin, wie sehr die Deutschen uns Polen verachten]. Wer | |
verkauft denn alles an die Deutschen? Wo ist heute die Danziger Werft? Wo | |
die Autofabrik Zeran? Und jetzt verschwinden die Kioske!“ | |
Sie steht auf, streicht sich den langen Rock glatt und erklärt resolut: | |
„Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“ Pani Basia will keinen Streit. Sie hat | |
jetzt andere Sorgen. Und die Diskussion mit der schon etwas schrulligen | |
älteren Dame würde ohnehin nichts bringen. „Vielen Dank, Pani Irena“, sagt | |
sie deshalb nur und drückt sich wieder das Taschentuch an die Augen. | |
Dann geht sie in den Kiosk, lässt die Rollläden ganz herunter, kommt wieder | |
heraus, schließt die Tür ab und sagt: „Das war es jetzt. 18 Jahre Kiosk in | |
Mokotow, dem schönsten Stadtteil Warschaus. Aus und vorbei!“ | |
7 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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