# taz.de -- Bürgerentscheide über Kliniken: Zu komplex für das Volk? | |
> In Niedersachsen soll es künftig keine Bürgerentscheide über Kliniken | |
> mehr geben. Kritiker befürchten eine Beschneidung der Demokratie. | |
Bild: Wird zugunsten eines Zentralkrankenhauses in Bad Fallingbostel geschlosse… | |
GÖTTINGEN taz | Wenn ein Krankenhaus verlegt werden soll, erregt das die | |
Gemüter in der betroffenen Region. Werden die Wege in die Klinik weiter? | |
Verschlechtert sich das Angebot? Im niedersächsischen Heidekreis gab es | |
über das geplante neue Zentralkrankenhaus am Sonntag einen Bürgerentscheid. | |
Das Ergebnis: Die Klinik wird in Bad Fallingbostel gebaut. 63,82 Prozent | |
der Einwohner, die ihre Stimme abgaben, waren dafür. 36,18 Prozent stimmten | |
für einen Standort in der Gemeinde Dorfmark. Die Wahlbeteiligung lag bei | |
rund 48 Prozent. Die neue Klinik soll die beiden bisherigen Krankenhäuser | |
in Soltau und Walsrode ersetzen. | |
Der Bürgerentscheid könnte allerdings der letzte über einen | |
Krankenhausstandort in Niedersachsen gewesen sein. Denn das | |
niedersächsische Kommunalverfassungsgesetz soll noch im Laufe dieses Jahres | |
reformiert werden. Nach dem Willen der SPD-CDU-Koalition sind dann | |
Krankenhausplanungen von Bürgerentscheidungen ausgeschlossen. | |
„Es ist paradox: Die direkte Demokratie boomt auch in Niedersachsens | |
Kommunen, die Menschen wollen mitbestimmen. Und Krankenhäuser sind ein | |
Thema, das viele Menschen tief bewegt“, sagt Dirk Schumacher, | |
Landessprecher des Vereins „Mehr Demokratie“ in Niedersachsen. „Doch die | |
Landesregierung legt genau da die Axt an.“ | |
Er verlangt: „Die Ausschließeritispläne müssen vom Tisch.“ Nach dem | |
„Bürgerbegehren-Rekordjahr 2020“ solle die Politik vielmehr darüber | |
nachdenken, wie sie die Hürden senken könne, statt den Bürgern neue Mauern | |
in den Weg zu stellen. Im Vorjahr wurden dem Verein zufolge in | |
Niedersachsens Kommunen 38 Bürgerbegehren zu verschiedensten Themen auf den | |
Weg gebracht – dreieinhalbmal so viele wie noch 2017. „Die Botschaft der | |
Bürger an die Politik lautet: 'Wir wollen häufiger mitbestimmen’. Die | |
Antwort der Politik sollte bürgernah sein“, sagt Schumacher. | |
Dass ausgerechnet Bürgerentscheide über Krankenhausstandorte und | |
-schließungen künftig nicht mehr möglich sein sollen, hat aus Sicht des | |
Vereins von der Landesregierung weniger demokratietheoretische als | |
gesundheitspolitische Gründe. In Niedersachsen kursierten seit Jahren | |
Vorschläge, im Extremfall fünf von sechs Kliniken zu schließen. Eine | |
zweistellige Zahl an Kliniken sei bereits stillgelegt. „Eine Welle von | |
Bürgerentscheiden gegen Krankenhausschließungen ist nicht unrealistisch“, | |
sagt Schumacher. „Will die große Koalition vielleicht deshalb den | |
Themenausschluss?“ | |
Indirekt wird das von der Regierung bestätigt. „Die geplante Herausnahme | |
der Krankenhausträgerschaft und der Organisation des Rettungsdienstes aus | |
dem Anwendungsbereich von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid beruht auf der | |
Erfahrung, dass diese direktdemokratischen Instrumente wenig geeignet sind, | |
die damit regelmäßig zusammenhängenden komplexen Fragen nach einer | |
bedarfsgerechten Versorgung in den fraglichen Bereichen hinreichend zu | |
beantworten“, formuliert die Sprecherin des niedersächsischen | |
Innenministeriums, Simone Schelk, auf Anfrage. | |
„Maßstab für die Bereitstellung von Gesundheitsdienstleistungen und damit | |
auch bei der Krankenhausplanung ist die Bedarfsgerechtigkeit“, sagt sie. | |
Die unterschiedlichen Akteure hätten naturgemäß oft unterschiedliche | |
Vorstellungen über eine bedarfsgerechte Versorgung. Dass diese neben der | |
Wohnortnähe auch Wirtschaftlichkeit und Qualität berücksichtigen müsse, | |
komme bei den in diesem Zusammenhang häufig sehr emotional geführten | |
Debatten regelmäßig zu kurz. | |
Es bestünden „erhebliche Zweifel, ob direktdemokratische Instrumente, die | |
komplizierte Sachverhalte zwangsläufig auf eine simple | |
Ja-/Nein-Entscheidung reduzieren“ geeignet seien, wenn es darum gehe eine | |
angemessene flächendeckende medizinische Versorgung zu gewährleisten, sagt | |
Schelk. Dabei müssten auch die finanziellen und medizinischen | |
Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Die Erfahrung zeige vielmehr, dass | |
Bürgerbegehren und Bürgerentscheide vorrangig dazu genutzt würden, | |
„Strukturen zu erhalten, die weder objektiv bedarfsgerecht noch | |
betriebswirtschaftlich sinnvoll sind“. | |
Im Übrigen sieht der Gesetzentwurf Schelk zufolge neben „der sehr | |
punktuellen Einschränkung“ der Bürgerbegehren und Bürgerentscheide eine | |
erhebliche Ausweitung dieser Verfahren vor. Denn wie in anderen | |
Bundesländern auch, sollten künftig die Vertretungen der niedersächsischen | |
Kommunen, also Gemeinderäte und Kreistage, selbst Bürgerentscheide | |
initiieren können. | |
Die Grünen-Landtagsabgeordnete Susanne Menge sieht ihr Bundesland in Sachen | |
direkter Demokratie als Schlusslicht. „Niedersachsen hält bundesweit mit | |
die rote Laterne, wenn es um direkte Demokratie geht“, sagte sie der taz. | |
Ihre Partei wolle die niedersächsischen Regelungen insbesondere für | |
Bürgerbegehren und Bürgerentscheide verbessern. | |
„Wenn politische Entscheidungen von den Bürger*innen verstanden und | |
mitgetroffen werden, dann werden sie auch mitgetragen. Das Gemeinwohl | |
gewinnt.“ Den Ausschluss von Krankenhaus- und Rettungsdienstangelegenheiten | |
von Bürgerbegehren lehnen die Grünen deshalb ab. | |
20 Apr 2021 | |
## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
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