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# taz.de -- Neues Gedenkkonzept in Berlin: Erinnern an Frauen und Migranten
> Wer bekommt eine Gedenktafel und warum? Der Bezirk
> Friedrichshein-Kreuzberg will künftig nicht mehr nur reagieren, sondern
> selbst aktiv werden.
Bild: Natalie Bayer, Clara Herrmann und Stéphane Bauer
Berlin taz | Ein solcher Ort konnte nur unter dem Dach der Kirche
entstehen. Es war Ulisone Rodrigues, ein Pfarrer aus Mosambik, der ab 1986
in der St.-Bartholomäus-Gemeinde in Friedrichshain Gottesdienste für
Vertragsarbeiter aus Mosambik anbot. Zwei Jahre später half Almuth Berger,
nach der Wende Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg, mit bei der
Gründung von Cabana.
Damit wurde das Gemeindehaus in der Höchste Straße Ecke Georgenkirchstraße
zu einem Treffpunkt, wo Mosambikaner und andere Vertragsarbeiterinnen und
-arbeiter feiern und sich austauschen konnten, auch über die
Rassismuserfahrungen in der DDR. Selbsthilfeprojekte wie diese waren in
Westberlin keine Seltenheit, im Ostteil der Stadt sind sie bis heute nur
wenig bekannt. Daran möchte Natalie Bayer etwas ändern.
Seit 2018 ist die 1976 in München geborene Kulturanthropologin Leiterin des
FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museums. Nun hat sie im Auftrag der
bezirklichen Kulturstadträtin Clara Herrmann (Grüne) ein Konzept für eine
„diversitätsorientierte Gedenkarbeit und Erinnerungskultur“ verfasst.
„Gedenken neu denken“, heißt das Papier, in dem auch die Geschichte von
Cabana vorgestellt wird. „Das war ein wichtiger Ort, weil in den Betrieben
das Thema Rassismus ein Tabu war“, sagt Bayer.
Natalie Bayer und Clara Herrmann sind zusammen mit Stéphane Bauer, Leiter
des Fachbereichs Kultur und Geschichte im Bezirksamt, zum Schlesischen Tor
gekommen, um der taz ihr Konzept vorzustellen. Der Ort sei nicht zufällig
gewählt, erklärt Bauer. „Dort entstand 1987 die Skulptur Menschenlandschaft
als Kooperationsprojekt von sieben Künstlerinnen und Künstlern.“ Einer von
ihnen war der Bildhauer Mehmet Aksoy, der in West-Berlin den türkischen
Künstler- und Akademikerverein gegründet hatte. Hervorgegangen war die
Initiative zur „Menschenlandschaft“ von der Internationalen Bauausstellung
IBA-Altbau.
Es sind Beispiele wie diese, die verdeutlichen, warum sich
Friedrichshain-Kreuzberg nicht zu Unrecht als Trendsetter sieht, wenn es
darum geht, gesellschaftliche Verhältnisse zu thematisieren und verdrängte
Geschichten sichtbar zu machen. Dazu gehört auch die Umbenennung des
Groebenufers nach der 1996 verstorbenen afrodeutschen Aktivistin und
Dichterin May Ayim im Februar 2010. „Mit der Umbenennung haben wir als
Bezirk das Thema Kolonialismus in der Gedenkkultur vorangetrieben“, sagt
Kulturstadträtin Herrmann. „Da waren wir Vorreiterin, auch in der
Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Initiativen.“
## Nur eine queere Person
Was die Gedenktafeln im Bezirk betrifft, gibt es nach Ansicht von Bayer
allerdings einiges nachzuholen. Von den über 100 vom Bezirk umgesetzten
Denktafeln, heißt es in ihrem Entwurf für ein neues Erinnerungskonzept,
seien weniger als zehn Prozent Frauen gewidmet, gar nur eine einer queeren
Person und nur zwei People of Colour. „Diese Zahlen offenbaren“, heißt es
weiter, „dass das bezirkliche Gedenken nicht die Diversität der Bevölkerung
und der Geschichte spiegelt.“
Es schwingt also durchaus Selbstkritik mit, wenn Clara Herrmann sagt, „dass
manche Perspektiven in der Gedenkarbeit nicht vorkommen“. Allerdings hat
die Grünenpolitikerin, die bei den Wahlen im Herbst als Kandidatin für das
Amt der Bezirksbürgermeisterin antritt, auch eine Erklärung dafür. „Ich
merke, dass wir diese Debatten immer wieder an einzelnen Fällen führen“,
sagt sie, „aber es gibt keine strukturierte und fokussierte Debatte. Wir
diskutieren das, weil es da von Initiativen Vorschläge gibt. Aber wir
wollen mit dem Konzept nicht nur reagieren, sondern selbst initiativ
werden.“
Auch Museumsleiterin Bayer hat festgestellt: „Wir haben ganz tolle
Forschungsprojekte und Ausstellungen gemacht, aber im Gedenken im
öffentlichen Raum bildet sich das nicht ab.“ Vier Themenbereiche hat das
FHXB-Museum deshalb herausgearbeitet, mit denen das Gedenken im Bezirk der
gesellschaftlichen Realität gerechter werden soll. Die Frauengeschichte
gehört dazu, die Migrationsgeschichte, die queerpolitische Geschichte und
das Thema Kolonialismus. „Wir haben dazu unsere eigenen Forschungen
herangezogen und weiter recherchiert“, so Bayer. Ein Ergebnis der Recherche
ist das Cabana als Ort des Austauschs für die mosambikanischen
Vertragsarbeiter. Ein weiterer ist das Narva-Glühlampenwerk, wo mehrere
Hundert Vertragsarbeiterinnen aus Vietnam beschäftigt waren. Ihnen drohte
bei Schwangerschaft die Abschiebung.
„Unser Konzept ist erst mal ein inhaltliches Konzept“, betont Bayer. „Üb…
Formate müssen wir uns in einem zweiten Schritt unterhalten.“ Dort, wo sich
einst das Cabana befand, kann sie sich ein Medienformat vorstellen, weil es
noch Zeitzeugen gibt. „Die Erinnerungskultur kann ein Verbindungsscharnier
sein, anders über die heutige Gesellschaft nachzudenken und etwa die
Nachbarn im eigenen Kiez anders zu betrachten“, sagt Bayer. „Damit können
wir auch soziale Zugänge auf Augenhöhe zueinander finden.“
Am kommenden Mittwoch soll das Konzept in der Gedenktafelkommission des
Bezirks diskutiert werden. Clara Herrmann strebt auch eine Diskussion im
Kulturausschuss und in der Bezirksverordnetenversammlung an. „Wichtig wäre
es, wenn wir einen Fahrplan bekämen“, sagt Stéphane Bauer. „Denn wir haben
ja nur begrenzt Mittel, das umzusetzen.“
9 Apr 2021
## AUTOREN
Uwe Rada
## TAGS
Friedrichshain-Kreuzberg
Vertragsarbeiter
Antirassismus
Lesestück Interview
Friedrichshain-Kreuzberg
Straßenname
Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin
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