# taz.de -- Frauenbewegung in Aserbaidschan: Träume, aus der 20. Etage gestoß… | |
> In Aserbaidschan behandeln Eltern ihre Kinder oft als Eigentum. | |
> Ermordungen und Suizide junger Frauen sind die Folge. Doch die Frauen | |
> wehren sich. | |
Bild: Festnahme bei einer Demo für Frauenrechte am 8. März in Baku | |
Schläge, immer wieder Schläge. Wegen eines gemeinsamen Fotos mit einem | |
guten Freund. Oder, wenn sie zehn Minuten später als vereinbart nach Hause | |
kommt. Morddrohungen ihres Vaters, sollte sie es wagen, ihr Elternhaus ganz | |
zu verlassen. So beschreibt die Aserbaidschanerin Sevil Alakischijewa auf | |
Facebook den Alltag in ihrer Familie. In einem der letzten Posts an die | |
feministische Aktivistin Gulnara Mechdijewa schreibt sie: „Sollte mir etwas | |
zustoßen, erinnere dich bitte an meine Nachrichten.“ Am 18. Februar 2021 | |
begeht die 20-jährige Studentin in ihrem Zuhause in der Hauptstadt Baku | |
Suizid. Wenige Tage später nehmen sich zwei weitere junge Frauen das Leben. | |
Die verzweifelten Hilferufe der Studentin, die Gulnara Mechdijewa im Netz | |
teilt, lösen eine regelrechte Flut von Kommentaren aus. „Wenn eine junge | |
Frau in diesem Land frei leben will, wird ein Vater nicht zögern, seiner | |
Tochter zu sagen, dass er sie umbringen werde, sollte sie jemals einen | |
Fehler machen. In diesem Land behandeln Eltern ihre Kinder wie ihr | |
Eigentum. Ruhe in Frieden, du Engel“, heißt es unter dem Hashtag | |
#Sevilüçünsusma (Schweigt nicht um Sevils willen). Und: „Ihr solltet euch | |
schämen, die Hoffnungen und Träume von jemandem, der so voller Leben war, | |
aus der 20. Etage zu stoßen.“ | |
Zwei Wochen vor dieser Suizid-Serie, am 4. Februar, versammeln sich | |
Aktivist*innen vor dem Sitz der Regierung in Baku. „Der Mord an Frauen | |
ist politisch“, steht auf Plakaten – eine Anspielung auf einen anderen | |
tragischen Fall, den von Banu Macharramowa. Die 32-jährige zweifache Mutter | |
wurde wenige Tage zuvor von ihrem Schwiegervater getötet. Anschließend | |
zerstückelt er die Leiche und entsorgt sie im Müll. Bei der Demonstration | |
dauert es gerade einmal fünf Minuten, bis Polizeikräfte den Protestierenden | |
die Poster entreißen und die Kundgebung auflösen. | |
Gewaltsames Vorgehen von Sicherheitskräften gegen Demonstrationen | |
regimekritischer Kräfte ist in Aserbaidschan Routine. [1][Der autokratische | |
Staatspräsident Ilham Alijew und sein Klan] haben die Südkaukasusrepublik | |
mit 10 Millionen Einwohnern, die mehrheitlich muslimisch sind, seit 2003 | |
fest im Griff. Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. NGOs, | |
die sich für Geschlechtergerechtigkeit einsetzen, haben jedoch noch gegen | |
ganz andere Widerstände zu kämpfen. Ihre Forderungen stoßen auch in weiten | |
Teilen der Bevölkerung immer noch auf Unverständnis bis hin zu totaler | |
Ablehnung. | |
## Politische Verbrechen | |
Laut Gulnara Mechdijewa, einer der Organisator*innen der Kundgebung | |
vom 4. Februar, sind Femizide und häusliche Gewalt gegen Frauen in der | |
patriarchalisch geprägten aserbaidschanischen Gesellschaft eines der | |
größten Probleme. „Wenn die Verhütung solcher Tragödien, die Frauen | |
erleben, ohne politische Eingriffe nicht möglich ist, dann sind diese | |
Verbrechen politisch. Wir sagen nicht, dass diese Morde in politischem | |
Auftrag geschehen – nein, wir betonen nur ihre politische Natur“, zitiert | |
[2][das Onlineportal Jam-News] Mechdijewa. | |
Die Zahlen sprechen für sich. Laut Angaben der aserbaidschanischen | |
Statistikbehörde wurden 2020 1.180 Fälle von häuslicher Gewalt registriert. | |
2019 lag die Zahl bei 1.039 – davon 37 Tötungsdelikte. Und das bei einer | |
Einwohnerzahl von 10 Millionen Menschen. Die Dunkelziffer dürfte weitaus | |
höher sein. Schätzungsweise 70 Prozent der betroffenen Frauen zeigen | |
derartige Taten gar nicht erst an – sei es aus Scham oder Angst, erneut von | |
ihren Verwandten „bestraft“ zu werden. Hinzu kommt, dass Polizeikräfte | |
häufig untätig bleiben, da sie derartige Fälle als | |
„Familienangelegenheiten“ abtun. | |
Dass Frauen in Aserbaidschan immer noch elementare Rechte vorenthalten | |
werden, ist keine zwangsläufige Entwicklung der Geschichte des Landes. Im | |
Gegenteil. 1919 ist es die Demokratische Republik Aserbaidschan | |
(1918–1920), die als eines der ersten Länder weltweit das Wahlrecht für | |
Frauen einführt. Seit 2010 gibt es ein Gesetz gegen häusliche Gewalt, das | |
unter anderem den Missbrauch von Ehepartnern sowie Vergewaltigung in der | |
Ehe unter Strafe stellt. Doch die Vorschrift ist bislang nicht das Papier | |
wert, auf dem sie geschrieben steht. Derzeit stehen für Opfer landesweit | |
nur drei Frauenhäuser zur Verfügung. Aktivist*innen beklagen, dass der | |
Staatsausschuss für Familien, Frauen und Kinder, der für die Umsetzung | |
verantwortlich ist, seinen Job nicht mache. | |
Zudem hat Aserbaidschan – neben Russland [3][und der gerade ausgetretenen | |
Türkei] – als einziger Mitgliedstaat des Europarates immer noch nicht die | |
Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen | |
und häuslicher Gewalt unterzeichnet. Hoffnungen, dies könnte sich in | |
absehbarer Zeit ändern, braucht sich niemand ernsthaft zu machen. Präsident | |
Ilham Alijew bringt eine weit verbreitete Stimmung auf den Punkt, wenn er | |
in einer seiner Reden sagt, Aserbaidschan brauche keine europäische | |
Integration. Denn in Europa könne man ja nicht einmal mehr Männer von | |
Frauen unterscheiden. | |
## „Schweigt nicht“ | |
Interessante Einblicke in sein schlichtes Weltbild gewährt auch Razi | |
Nurullajew, Abgeordneter der „Volksfront-Partei“, die eher patriotisch | |
unterwegs ist. In einer Parlamentsdebatte zum Thema Gender Ende vergangenen | |
Jahres arbeitet sich Nurullajew am Feminismus ab. „Gleichberechtigung und | |
Frauenrechte dürfen nicht dazu missbraucht werden, Unmoral in der | |
Gesellschaft zu verbreiten. Einige Feministinnen meinen jedoch, dass | |
Gleichheit Verantwortungslosigkeit und Herrschaft über Männer bedeutet“, | |
sagt er. Und fügt noch hinzu: „Eine Frau ist eine Blume. Es ist die Pflicht | |
und Verantwortung des Mannes, sie zu schützen.“ | |
Am 28. Februar 2021 findet in Baku das erste Konzert des feministischen | |
Kollektivs „Fem Utopia“ statt. Frauen tragen eigene Kompositionen vor. In | |
einem Protestsong heißt es: „Toleriert keine Gewalt, schweigt nicht. Lasst | |
uns zusammenstehen. Er, der dich unterdrückt, hat Angst vor dir. Lasst uns | |
das Patriarchat stürzen.“ Das Event, das erste seiner Art, ist die | |
Begleitmusik zum diesjährigen Internationalen Frauen-Kampftag am 8. März. | |
Bis dahin bekommt die Feministin Gulnara Mechdijewa jedoch noch ganz andere | |
Töne zu hören. Gegenüber dem Onlineportal oc-media.org berichtet sie Ende | |
Februar, dass ihr Facebook-Account gehackt worden sei – wieder einmal. | |
Unter dem entwendeten Material seien auch Posts aus dem Jahre 2016, wo sie | |
von einem emotionalen Zusammenbruch und Depressionen berichtet. Doch nicht | |
nur diese privaten Details, die umgehend der Allgemeinheit zugänglich | |
gemacht werden, fallen den Hackern in die Hände. Sie greifen auch auf eine | |
private Frauen-Facebook-Gruppe zu, die rund 300 Mitglieder hat, darunter | |
auch Mechdijewa. Bei allen macht die Polizei kurz darauf einen Hausbesuch. | |
In einigen Fällen werden die Väter aufs Revier zitiert. | |
Konservative Kräfte inszenieren eine Kampagne und schlachten das Leck in | |
den sozialen Medien genüsslich aus. „Feminismus tötet, schützt eure | |
Kinder“, heißt es in einem Post. Ein anderer bezieht sich direkt auf | |
Mechdijewa. „Glauben Sie wirklich, dass so eine schizophrene, geistig | |
kranke Person jungen Mädchen helfen kann, die vorhaben einen Suizid zu | |
begehen?“ | |
## Von wegen elterliche Zuneigung | |
Dann kommt der 8. März. Die Kundgebung an diesem Tag haben die Behörden | |
vier Tage vorher verboten. Der öffentliche Personennahverkehr in Baku wird | |
am Morgen lahmgelegt – als Begründung dafür muss die Coronapandemie | |
herhalten. Doch die Aktivist*innen marschieren und treffen in der | |
Innenstadt auf mehrere Hundertschaften Polizei. Einige Polizist*innen | |
überreichen Blumen, dann kommen Schlagstöcke zum Einsatz, um die Menge zu | |
zerstreuen. Mindestens 20 Teilnehmer*innen werden vorübergehend | |
festgenommen. | |
Am 10. März berichtet die unabhängige aserbaidschanische Nachrichtenagentur | |
Turan, dass am Tag zuvor zwei Schülerinnen der elften Klasse im Bakuer | |
Stadtbezirk Qaradağ Suizid begangen haben. | |
Über das Onlineportal oc-media gelangt man zum Youtube-Video eines | |
Interviews mit dem Vater der toten Studentin Sevil Alakischijewa. Er habe | |
seine Tochter mehr geliebt als sich selbst, erzählt er. Wäre er ein | |
schlechter Vater gewesen, hätte er ihr nicht erlaubt zu studieren oder ins | |
Stadtzentrum zu fahren, um sich dort mit Freunden zu treffen. | |
Eine merkwürdige Auffassung von elterlicher Zuneigung – zumal, wenn man | |
einen weiteren Facebook-Post von Sevil liest, den oc-media zitiert. So soll | |
ihr Vater angekündigt haben: „Ich werde dich finden und töten. Aber ich | |
habe Freunde bei der Polizei. Die schmiere ich und dann wird mir nichts | |
passieren.“ | |
26 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Repression-in-Aserbaidschan/!5670930 | |
[2] https://jam-news.net/ | |
[3] /Bedeutung-der-Istanbul-Konvention/!5756814 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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