Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- RKI-Chef Wieler zu Corona und Migration: Ungleichheit macht krank
> In der „Bild“-Zeitung stellt Lothar Wieler Covid-Infektionen als
> ‚Integrationsproblem‘ dar. Das ist rassistisch, offenbart aber auch ein
> Problem der Krankenstatistik.
Bild: Seine Behörde ist zuständig für den Schutz der Bevölkerung vor Krankh…
Obwohl die Neuinfektionen steigen, wurden am Mittwoch „Lockerungen“ und
somit wohl auch eine dritte Welle beschlossen. Am gleichen Tag suggerierte
die Bild-Zeitung, dass der Großteil der Covid-Intensivpatient*innen
Menschen mit Migrationshintergrund seien – womit sie schlechte
Deutschkenntnisse meint. Der Autor beruft sich auf Zitate von RKI-Chef
Lothar Wieler und weiteren Medizinern. „Es ist ein Tabu“: Man dürfe nicht
darüber sprechen, sonst habe man eine Rassismusdebatte an der Backe.
Ja, hat man auch – aber aus einem anderen Grund als dass es verboten ist,
rassistische Sachen zu erzählen. In der Bild wird versucht, eine neue
Integrationsdebatte wie in den Nullerjahren aufzumachen. In einem Wieler
zugeschriebenen Zitat redet er von Parallelgesellschaften. „Beinharte
Sozialarbeit in Moscheen“ sei nötig, aber die erreiche man nicht. Er redet
von 4,8 Prozent der Bevölkerung, deren Anteil aber mehr als 50 Prozent der
Intensivpatient*innen ausmache. Gemeint sind offensichtlich Muslime.
Ein Chefarzt redet von 90 Prozent der intubierten Patient*innen mit
„Migrationshintergrund“, die er „Patienten mit Kommunikationsbarriere“
nennt.
Das RKI stellt später klar, dass sich die 50 Prozent nur auf drei Bespiele
aus Großstädten beziehen und es sich nur um Überlegungen und keine
abschließenden Feststellungen gehandelt habe. Die einzige konkret
revidierte Aussage bleibt diese. So bleiben Anekdoten wie die von Wieler
angeblich bemühte verstorbene Mutter eines „Clanchefs“ bestehen. Auch
andere Behauptungen aus dem Artikel wurden aber bereits durch
[1][Faktenchecks entkräftet].
## Auf der Intensivstation? Selbst schuld
Der Subtext: Wer mit Covid auf der Intensivstation landet, ist ein bisschen
selbst schuld. Darf man aber nicht sagen. Außerdem: Die Intensivstationen
sind nicht etwa deshalb voll, weil die Regierung die Bevölkerung nicht
angemessen vor der Pandemie schützt, sondern weil die Menschen sich nicht
an die Regeln halten. Und zwar Menschen mit schlechten Deutschkenntnissen.
So werden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt und die Verantwortung den
Schwerkranken selbst zugeschoben. Zur Erinnerung: Wieler ist der Kopf der
Behörde, die für Krankheitsprävention zuständig ist.
Die DIVI (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und
Notfalldisziplin) [2][widersprach prompt], dass es nicht stimmen würde,
dass 90 Prozent der Covid-Intensivpatient*innen einen Migrationshintergrund
hätten. Zum einen gebe es die Daten nicht, zum anderen würden alle
Patient*innen gleich behandelt, die Aussagen seien diskriminierend.
Es ist schön, dass die DIVI der rassistischen Stoßrichtung des
Bild-Artikels widerspricht. Allerdings wird es als anstößig dargestellt,
dass es tatsächlich einen höheren Anteil von wie auch immer definierten
Menschen mit Migrationshintergrund auf den Intensivstationen geben könnte.
Denn dass es plausibel sein könnte – wenn auch bundesweit nicht im
behaupteten Ausmaß –, ist ein Problem. Und es ist auch ein Problem, dass
wir es nicht wissen, weil entsprechende Daten nicht erhoben werden.
Denn wenn wir nicht wissen, was die Risikofaktoren sind, können Menschen
auch nicht entsprechend geschützt werden. (Jetzt mal unabhängig davon, dass
„Risikogruppen schützen“ hauptsächlich eine Chiffre dafür geworden ist,
dass sich mehr als ein Drittel der Bevölkerung alleine zu Hause
einschließen soll, damit sich der Rest nicht einzuschränken braucht).
## Es fehlen Daten
Weil wir Daten anhand der Zugehörigkeit zu rassistisch diskriminierten
Gruppen kaum erheben, können wir sie auch schlecht sichtbar machen und
verändern. Deswegen gibt es [3][Initiativen wie den Afrozensus], die das
ändern wollen. Der Datenmangel betrifft die Ungleichheiten, die es schon
vor der Pandemie gab – und die jetzt durch sie verstärkt werden. Wer in
beengten Verhältnissen wohnt, bei der Arbeit viel Kontakt zu Menschen haben
muss oder auch dem Virus direkt ausgesetzt ist, wie zum Beispiel Personal
in medizinischen Bereich, ist stärker gefährdet. Und ja, Zugang zu
medizinischer Versorgung und zu verständlichen Informationen ist auch nicht
gleichermaßen gegeben.
Wir wissen aus anderen Ländern, dass aufgrund von Rassismus diskriminierte
und [4][marginalisierte Gruppen] ein teilweise deutlich höheres Risiko
haben zu erkranken, schwere Verläufe zu haben, und zu sterben. Indigene und
[5][Schwarze] US-Amerikaner*innen haben beispielsweise ein gegenüber Weißen
mindestens [6][doppelt so hohes Risiko für einen tödlichen Covid-Verlauf]
(Stand März 2021, um den Faktor Alter bereinigt.)
Wir wissen aber auch aus Deutschland, dass Armut beziehungsweise
ALGII-Bezug das Risiko für schwere Verläufe stark erhöht. Viele
Benachteiligungen können das Risiko für Menschen verschärfen, die in
Deutschland unter „mit Migrationshintergrund“ gefasst werden – diese sind
sehr vielfältig, mit Faktoren wie Alter, Geschlecht, Religion, finanziellem
Status verschränkt. Sprachkenntnisse sind wohl einer dieser Faktoren –
seine Gewichtung unklar. Man lehnt sich wohl nicht sehr weit aus dem
Fenster zu vermuten, dass die meisten Menschen verstanden haben, dass
Abstand und Masken wichtig sind. Die Frage ist, ob sie überhaupt Abstand
halten können, etwa in Massenunterkünften oder auch im ÖPNV zur Rush-Hour
auf dem Weg zur Arbeit.
Ins öffentliche Bewusstsein sind vor allem extrem ausbeuterische und
gefährliche Arbeitsverhältnisse wie in der Fleischindustrie geraten. Doch
systematische Daten fehlen, sowohl für die Risikofaktoren, sich
anzustecken, als auch zu Diskriminierung und ungleichem Zugang im
Gesundheitswesen selbst.
Es sind zwei unterschiedliche Probleme, die jetzt in der Pandemie
zusammenlaufen: Daten zu Diskriminierungskategorien werden nicht
systematisch erfasst. Und Daten zum Infektionsgeschehen sind mangelhaft: Wo
stecken sich Leute wirklich an? [7][Wir wissen es nur über einen Bruchteil
der Fälle.]
## In der Schublade
In der Standardantwort der RKI-Pressestelle zu den Bild-Zitaten wird auf
eine Handreichung an die Gesundheitsämter verwiesen mit dem Titel
[8][„Allgemeine Hinweise für Gesundheitsbehörden zur Kontaktaufnahme und
Zusammenarbeit mit marginalisierten Bevölkerungsgruppen“]. Darin werden zum
einen diskriminierende Strukturen als Faktoren von Ausbrüchen analysiert
und zum anderen ein inklusiver Ansatz aufgezeigt, um diese zu verhindern:
„Grundhaltung der vorliegenden Hinweise ist, dass es weder ‚schwer
erreichbare‘ noch ‚schwierige Populationen‘ gibt. Mit antidiskriminierend…
und adressatinnen- und addressatengerechten Vorgehensweisen werden alle
Bürgerinnen und Bürger befähigt, bei der Eindämmung der Pandemie
mitzuwirken.“ Eine Anfrage, inwiefern die Gesundheitsämter nach diesen
Hinweisen arbeiten, blieb bislang unbeantwortet. Auch wenn dies die
offizielle Haltung vom RKI ist – Aufmerksamkeit bekam Wieler genau mit den
Aussagen, die laut diesem Papier vermieden werden sollen.
Die RKI-Handreichung endet mit: „Reproduktion von Stereotypen und
Vorurteilen sollte sowohl in der internen Kommunikation, sowie in der
Berichterstattung und in der Planung und Umsetzung von Maßnahmen
(Do-no-harm-Prinzip) vermieden werden.“ Vielleicht sollte Wieler es lesen.
6 Mar 2021
## LINKS
[1] https://correctiv.org/faktencheck/2021/03/04/herkunft-von-covid-patienten-w…
[2] https://twitter.com/DIVI_eV/status/1367142400339116035
[3] /Rassismusforscher-ueber-Afrozensus/!5677279
[4] https://www.theguardian.com/world/2021/feb/09/covid-mortality-in-england-st…
[5] https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/feb/22/black-americans-covid…
[6] https://www.apmresearchlab.org/covid/deaths-by-race
[7] https://twitter.com/mkreutzfeldt/status/1321344441299468288
[8] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Marginalisiert…
## AUTOREN
Anna Böcker
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Rassismus
Robert Koch-Institut
Bild-Zeitung
Diskriminierung
Schwerpunkt Rassismus
Axel Springer
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Obdachlosigkeit in Hamburg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Studie über Haltung zu Zugewanderten: Rassismus, aber nur ein bisschen
Eine Langzeitstudie zeigt, dass viele Deutsche skeptisch auf Migration
blicken. Die Abwertung von Geflüchteten ist so heftig wie noch nie.
Enthüllungsbuch über „Bild“: Die Brutalität des Boulevards
Nach fast zehn Jahren „Bildblog“ folgt das Buch von Mats Schönauer und
Moritz Tschermak. Sie zeigen gefährliche Mechanismen der „Bild“ auf.
Ungleichheit in der Coronakrise: Armut ist kein Naturgesetz
Die Coronakrise trifft wenig Verdienende stärker als andere. Die Mittel,
der sozialen Ungerechtigkeit entgegenzuwirken, sind bekannt.
Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Vogtland hebt Impfreihenfolge auf
In dem Landkreis soll sich bald impfen lassen können, wer will. Italien
plant, Sputnik-V-Impfstoff herzustellen. Peter Tschentscher fürchtet einen
dritten Lockdown.
Soziologe über Corona und soziale Spaltung: „Armut macht krank“
Je weniger Geld, desto größer das Risiko einer Ansteckung: Nico Dragano zur
Frage, warum die Pandemie ganz besonders Menschen mit geringem Einkommen
trifft.
Entwicklungen in der Coronapandemie: Infektionszahlen steigen wieder
Intensivmediziner fordern, eventuelle Lockerungen auf den April zu
verschieben. Dafür zeigen Impfungen erste Erfolge.
Expertin über Obdachlose und die Kälte: „Es ist eine üble Situation“
Monika Kelting hilft Obdachlosen in Hamburg. Sie erklärt, wie Corona die
Lage der Menschen verschlimmert und warum klassische Notunterkünfte oft
gemieden werden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.