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# taz.de -- Die Wahrheit: Mit dem Virus leben
> Einsame Krone der Schöpfung: Besuch bei einer alten adeligen Dame, die es
> geschafft hat, auf ganz eigene Weise mit der Pandemie fertigzuwerden.
„Wir werden mit dem Coronavirus leben lernen müssen.“ Das haben wir in den
vergangenen Monaten schon oft gehört, und auch im neuen Jahr wird uns
dieser Satz wie eine lästige schwäbische Müsli-Werbung im Ohr klingeln.
Doch was für viele nur wie eine leere Phrase klingt, ist für andere
Auftrag. Henriette Dörte Elenore von Pinneberg zu Höckentorff ist so eine
Person.
„Leben lernen kann man nur in der Praxis“, sagt sie in bestimmtem Tonfall
mit leise pfeifender Lunge. „Das ist wie mit den Pferden. Die lernt man
auch nicht zu beherrschen, indem man sie malt. Da muss man aufsitzen.“ Und
die Frau Gutsbesitzerin weiß, wovon sie redet. Mit funkelnden Augen erzählt
sie von ihren ersten Reitunfällen, von komplizierten Knochenbrüchen und
dramatischen Kopfverletzungen als Kind.
„Natürlich hab ich geweint. Ich war ja noch ein kleines Mädchen. Aber es
heißt doch: Was einen nicht umbringt … und so weiter. Aber ich schweife ab
…“, kommt sie mit der Grandezza einer Frau, die seit Jahren gewohnt ist,
anderen Befehle zu erteilen, zurück zum Thema. „Geschadet hat es mir
jedenfalls nicht“, resümiert sie und gießt sich wie beiläufig schweren
schwarzen Tee ein.
„Also hab ich mir gesagt, dann lerne ich eben mit dem Virus leben. Hier und
jetzt.“ Aber wie, fragen wir die Dame, die ihre Herkunft bis in das 14.
Jahrhundert zum Raubrittergeschlecht des Hauses Nihrenstein von Branntwyn
zurückverfolgen kann. Da lächelt sie nur milde. Eine Kleinigkeit wäre das,
meint sie, richtet den Schlafrock ihrer Urgroßmutter aus dem Jahr 1871 und
lässt dabei neckisch einen kleinen Flecken Haut hervorblitzen.
„Kommen Sie mal mit.“ Sie führt uns hinauf in den zweiten Stock durch
ausladende Treppenhäuser und abweisende Flure, bis sie schließlich vor
einer massiven Eichentür stehen bleibt. „Hier ist es.“ Die Tür öffnet si…
quietschend, und man blickt in ein Zimmer. Ein Zimmer, nur für das Virus.
Wäre man eines dieser Kleinstlebewesen, müsste das wohl das Paradies sein.
„Ich koch ihm auch was Schönes, bürste es täglich, geh mit ihm an die
frische Luft …“ Die Nachkommin bauernschändender Kriegsherren ist sichtlich
stolz auf ihr gelungenes fürsorgliches Virenbiotop. „Bin ja selbst
diplomierte Groomerin, wie man vornehm sagt. Und da war für mich der
Umstieg nicht schwer. Ob man jetzt einen Hund frisiert oder ein Virus
hofiert ist nebensächlich. Man muss das Wesentliche im Wesen des Wesens
erkennen.“
## Jugend als Hundefriseurin
Auch wenn für die adelige Dame, die sich in ihrer Jugend zur Hundefriseurin
hatte ausbilden lassen, der Umstieg vom Wirbeltier zur Mikrobe anfangs
etwas holprig war. „Waschen, legen, trimmen, nach Zecken absuchen – das
geht schnell, so eine Zecke ist ja um einiges größer als ein Virus. Aber
versuchen Sie mal, so ein Kleinstlebewesen zu föhnen. Kaum schaltet man das
Gerät ein, ist es weg.“
Aber eine Frau ihrer Klasse gibt so schnell nicht auf. „Napoleon und die
Rote Armee hat dieses Anwesen schon überlebt, im 18. Jahrhundert waren
sogar die Österreicher da, also vor so einem Pandemiechen werden wir sicher
nicht kapitulieren.“
Die Lösung ist ihr im Badezimmer eingefallen. „Ich liege da in meiner
Badewanne aus Palisander und hab mich gerade so richtig wohl gefühlt. Und
da kommt es mir: Das Virus muss auch bei mir heimisch werden. Ein Zuhause
finden.“ Artgerechte Umgebung ist der Schlüssel zum Erfolg.
„Zuerst hab ich ihm mal Spielzeug gekauft.“ Und womit spielen Viren am
liebsten? Mit Zellen. Aber woher nehmen? Versuche mit Zellulose und
Celluloid schlagen fehl, und auch die Celler Buchweizentorte führt nicht
zum gewünschten Erfolg. Zellen – gar nicht so leicht zu bekommen. Der
gutseigene Kerker wird seit dem Jahr 1945 als Lagerraum für die Briefe
ihres Vaters über die schönsten Kriegsverbrechen im Baltikum genutzt. Der
steht also nicht zur Verfügung.
„Aber dann hab ich mir gesagt: Ist das Virus nicht auf einem Markt für
Meeresfrüchte und Wildtiere im chinesischen Wuhan ausgebrochen? Also lass
ich mir jede Woche ein, zwei Eimer voll mit Garnelen und 15 Kilo
geschlachteten Fledermäusen bringen. Die werden hier hineingekippt, da geht
es sofort viral, wenn sie verstehen, was ich meine.“ Und da kichert die
alte Dame wie ein verzogenes zwölfjähriges Mädchen.
Ja, natürlich stinkt das bestialisch. Aber man muss eben auch Opfer
bringen. Und weil das kleine Virus viel körperliche Nähe braucht, wird es
täglich geknuddelt und geknutscht. Es gilt die Faustregel: Je mehr
Schleimhautkontakt desto besser. „Aber natürlich muss es mal an die frische
Luft, damit es auch andere Leute trifft.“ Da hilft die Familientradition.
Stolz hustend erzählt die Besitzerin, während sie durch ihr Schloss führt,
von der langen Krankheitsgeschichte ihres Adelsgeschlechts. „Wir haben
schon immer gern mit Krankheitserregern zusammengelebt. Mein Großvater ist
1919 an der Spanischen Grippe gestorben und seine Großmutter an der
Cholera, und ihr Großvater hat angeblich als Erster die Syphillis aus
Amerika in unsere Gegend mitgebracht. Sogar mein Enkel hat schon mehrere
Viren auf seinem Laptop. Sollen die anderen doch Pferde züchten, bei uns in
der Familie setzen wir auf Mikroben. Das ist etwas Beständiges, die wird es
immer geben“, sagt Frau von Pinneberg zu Höckentorff im Brustton der
Überzeugung, der nur selten von Fieberschüben unterbrochen wird.
## Peitsche für die Dorfbauern
Selbstverständlich hat man mit so einem Mitbewohner aber auch Probleme.
„Die Leute im Dorf glauben ja, ich spinn.“ Da lacht sie, bevor ein Schub
Schüttelfrost sie wieder in die Realität zurückrüttelt. Und während sie
sich den Schweiß von der Stirn und der Oberlippe tupft, führt sie aus, wie
hoch die Zahl der Coronaleugner in der einfachen Landbevölkerung sei. „So
sind sie eben, die Bauern. Wenn sie die Peitsche nicht spüren, glauben sie
nicht, dass es sie gibt.“
Aber sie führe die Bauern gern herum, lasse sie mit dem Virus in Kontakt
kommen und schon nach wenigen Tagen husteten die sich die Lunge aus dem
Leib. Gerade diese Art der Aufklärung wäre ihr ein pädagogisches Anliegen.
Sie verspüre immer noch eine gewisse Verantwortung für die Nachkommen der
ehemaligen Leibeigenen. „Sie sind wie die fauligen Früchte unseres
verrotteten Baums.“
Aber sie wolle nun nicht abschweifen, erklärt die Hausherrin mit röchelnder
Stimme und schließt den Rundgang: „Zumindest für meinesgleichen muss ich
sagen: Es gibt so viel, was uns verbindet. So ein Virus lebt ja nur von der
Lebenskraft der Menschen, von der Vitalität. Und das ist ein Konzept, das
meine Familie – wie der Adel überhaupt – schon seit Jahrhunderten verfolgt.
Darum heißt es vielleicht auch Corona, also Krone, hahaha!“
6 Mar 2021
## AUTOREN
Severin Groebner
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
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Die Wahrheit
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