Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Lösegeld aus Schneekanonen
> Ski unheil! Alpine Skigebiete sollen in diesem Winter wegen Corona
> geschlossen werden. Ein Besuch bei einem Betroffenen.
Bild: Der Inbegriff des Superspreading-Skiparadieses: Ischgl
Ein Gespenst geht um in Europa. Das Gespenst des geschlossenen Skilifts.
Dort, wo Hoteliers und Touristiker in jahrzehntelanger mühsamer Kleinarbeit
Stein um Stein Berge aufgeschüttet und Schneekanonen haben wachsen lassen,
droht sich in den Alpen eine unnatürliche, gespenstische Stille
auszubreiten.
Auf über 2.000 Meter Höhe wurden bereits zwischen den natürlich
vorkommenden Gondelbahnen und Aprés-Ski-Hütten erste invasive Arten wie
Gemsen und Schneehühner beobachtet. „Gefährlich, sehr gefährlich“ sei da…
meint der Schladminger Seilbahnbetreiber Alois Gerschtlmacher, schließlich
bedrohen diese fremden Arten den Sommerschlaf der Pistenraupen im
natürlichen Wirtschaftsraum der Berge.
Der kugelige Mann mit den rot geäderten Nasenflügeln schenkt sich,
sichtlich emotionalisiert, einen doppelten Obstler ein: „Sollten die
angekündigten Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden, wird der Tourist
daran gehindert, seinem natürlichen Wanderungstrieb nachzugehen!“, warnt
der geschäftige Gerschtlmacher und weist mit seinen fleischigen Armen ins
weite Panorama des hochsensiblen Freizeitparks Alpen. Dorthin, wo das zarte
Pflänzlein eines Milliarden-Snow-Business in diesem Winter mit Stumpf und
Stiel ausgerissen werden soll. Für zahlreiche pittoresk zersiedelte alpine
Gegenden droht das Schlimmste: eine Saison ohne Umsatz.
Zwar hält sich die EU vornehm aus der Diskussion heraus und beschränkt sich
auf ihre Kernkompetenz, warme Worte und gute Ratschläge, aber andere sind
nicht so zurückhaltend. Was Umweltbewusstsein, Lawinenschutz, Klimawandel
oder die einfache Vernunft über Jahrzehnte trotz intensiven Bemühens nicht
geschafft haben, das droht jetzt den Attacken italienischer, bayerischer
und französischer Ministerpräsidenten oder gar einer Kanzlerin in Berlin
zum Opfer zu fallen. Tatsächlich möchte auch Italien Skigebiete schließen.
Eine Maßnahme, die nicht einmal bei der Pest von 1347 ergriffen wurde. Der
französische Ministerpräsident plädiert dafür, Bars und Restaurants in
Skigebieten „wegen Corona“ geschlossen zu halten, und sein bayerischer
Kollege droht sogar mit Quarantäne für Wochenendausflügler nach Österreich.
## Es droht Grünwald
„Das ist doch wie ein Gefängnisaufenthalt!“, klagt Gerschtlmacher, der den
kalten Hauch des Todesnebels mit dem inzwischen dritten doppelten Obstler
bekämpft. „Da fragt sich doch jeder Münchner: ‚Das P1 hat zu, für das
Cabrio ist es zu kalt – und jetzt das! Wo soll ich denn dann mein
Wochenende verbringen? Bei meinen Eltern in Grünwald, oder was?‘“ Entsetzen
breitet sich auf dem geröteten Gesicht des Schladmingers aus.
Aber es gibt noch Hoffnung. Während man in der Schweiz in bewährter
Wilhelm-Tell-Manier auf zähen Widerstand setzt und so manchen Geldwäscher
und internationalen Sportfunktionär nicht mehr aus seinem Chalet ausreisen
lässt, besinnt man sich in den alpinen Gegenden Österreichs auf alte
Traditionen. Hat man nicht hier schon unter dem Sandwirt Andreas Hofer 1809
gegen Bayern und Franzosen gekämpft? Haben einem die Italiener nicht schon
Südtirol gestohlen? Und jetzt soll Corona einem das Liebste nehmen?
Gerschtlmacher, mittlerweile beim achten „Ist gsund!“-Schnaps angekommen,
macht ein finsteres Gesicht: „Das lassen wir nicht zu. Wir haben schon
vorgesorgt. Die Pläne sind fertig.“ Schließlich ist der Westen Österreichs
nicht nur als Tourismusgegend, sondern auch als Transitland bekannt, meint
Gerschtlmacher. Da müsse man ansetzen. Jeder brauche für die Durchfahrt die
Vignette – vulgo „Pickerl“ – und die soll er auch kriegen, aber nur wenn
man auch ein Ski-Wochenende dazubucht. Sonst wird die Durchfahrt
verweigert. Oder noch besser: die Ausfahrt verhindert.
## Über die grüne Grenze
Für Autofahrer ohne Vignette drohen Strafen von Freiheitsentzug von bis zu
drei Wochen. Abzusitzen in einem Skihotel auf eigene Kosten. Quarantäne mal
anders! Und wenn das auch nicht reicht, könne man auch die Lkw-Fahrer
festsetzen. Während unten im Tal die Tomaten in den Lastern vergammelten,
könnten die Brummie-Piloten oben am Hang die Pflugbogen üben.
Oder – auch das wäre eine Möglichkeit, redet sich Gerschtlmacher mit
funkelnden Augen jetzt in Rage – man könne einfach über die grüne Grenze
gehen und sich die Gäste selber organisieren. Es würde ihn nicht wundern,
wenn so mancher Bewohner der Grenzgemeinden Bayerns, Südtirols oder gar
Sloweniens eines Tages auf österreichischem Staatsgebiet aufwachen würde
und sich gezwungen sähe, einen Skipass, Schnitzel mit Pommes und ein
Doppelbettzimmer zu bezahlen.
Auf die Frage, ob das nicht Kidnapping sei und damit den Tatbestand der
Entführung erfülle, winkt Gerschtlbauer müde ab: „Das ist unsere Tradition!
Schon 1192 hat der Herzog Leopold V. den englischen König Richard
Löwenherz in der Burg Dürnstein festgesetzt und erfolgreich ein hohes
Lösegeld gefordert. Das ist quasi der Beginn des österreichischen
Tourismus!“
## Luxus- und Modeerscheinungen
Das Wort „Erlebnisgastronomie“ könnte somit im Alpenraum eine ganz neue
Bedeutung bekommen. Schließlich ist man in den Alpen unter lauter guten
Christenmenschen, und das Herz der Nächstenliebe schlägt hier kräftiger als
anderswo. „Sie müssen sehr viel weiter denken!“, raunt Gerschtlmacher, der
nun eine zweite Flasche Hochprozentiges heranzieht. „Ich sage nur:
‚Moria‘!“
Zehntausende Flüchtlinge aus griechischen Lagern will der
Fremdenverkehrsfreund aufnehmen. Das Gelände würden die örtlichen
Gebirgsschützen lückenlos überwachen. Kost und Logis könne man übernehmen,
vor allem aber transportiert man die Schutzsuchenden zur Bergstation und
stellt sie auf die Ski. „Das ist die Lösung! Das sind doch alles
Bergvölker. Afghanen und Tschetschenen – da findet sich schon das eine
oder andere Abfahrtstalent. Das ist die Kundschaft von morgen!“, jubelt
Gerschtlmacher jetzt fast schon ein wenig erschöpft.
Und nach vierzehn Tagen im weißen Glück mit Vollpension geht es zurück ins
Flüchtlingslager. Dann kommen die nächsten, diesmal aus Lampedusa.
Finanziert werden soll das alles vom Flüchtlingskommissariat der EU. So
würden die Gelder aus Brüssel endlich einmal richtig eingesetzt werden,
zeigt sich Alois Gerschtlmacher zum Abschied mit erstaunlich fester Zunge
überzeugt: „Schließlich geht’s hier nicht um Luxusprobleme wie
Menschenrechte oder Modeerscheinungen wie Corona. Hier geht’s ums
Wesentliche. Denn Skifahren ist das Wichtigste, was man sich nur vorstellen
kann!“
30 Nov 2020
## AUTOREN
Severin Groebner
## TAGS
Die Wahrheit
Skitourismus
Alpinismus
München
Sölden
Kolumne Press-Schlag
Schwerpunkt Coronavirus
Wintersport
Die Wahrheit
Kolumne Stadtgespräch
Rote Armee Fraktion / RAF
Homo-Ehe
## ARTIKEL ZUM THEMA
Münchner Vorort Grünwald: Wo die Reichen wohnen
Der Münchner Vorort Grünwald ist ein Mythos voller Luxus und Protz. Doch es
gibt auch Normalos, die Blasmusik spielen und Geflüchtete unterbringen.
Konflikte im internationalen Skisport: Planen gegen die Natur
Beim Weltcup-Auftakt in Sölden gibt es Kritik am Internationalen
Skiverband. Es geht um den Rennkalender in Zeiten des Klimawandels – und
TV-Rechte.
Überraschungserfolg auf der Skipiste: Ein Brite? Na klar!
Ein Mann aus England gewinnt ein Skirennen. Die Aufregung darüber ist
schier grenzenlos. Nur: warum eigentlich?
Die Wahrheit: Mit dem Virus leben
Einsame Krone der Schöpfung: Besuch bei einer alten adeligen Dame, die es
geschafft hat, auf ganz eigene Weise mit der Pandemie fertigzuwerden.
Alpine Ski-WM in Cortina d'Ampezzo: Alles anders am Hang
Nicht nur die Coronapandemie sorgt für besondere Atmosphäre bei der WM. Das
deutsche Abfahrtsteam ist so gut wie lange nicht mehr.
Die Wahrheit: Die Erfindung der deutschen Küche
Nach der Zerschlagung der Cuisine française blieb den Preußen nur
Hausmannskost. Ein Ereignis, das sich heute zum 150. Male jährt.
Wintersport und Corona in Österreich: Wien will bisserl auf die Piste
Die österreichische Regierung will Skigebiete, Hotels und Lifte möglichst
bald wieder aufsperren. Die Infektionszahlen bleiben derweil hoch.
Die Wahrheit: Ein Bett im Schlachtfeld
Die Rote Armee Fraktion bekommt zum 50. Jahrestag der Gründung der RAF im
Jahr 1970 ein musikalisches „Terroristical“.
Die Wahrheit: Hochzeit mit dem Hund
Bei der Homo-Ehe haben die Konservativen eine große Angst: Alle dürfen
alles heiraten. Eine Reise durch den Dschungel hysterischer Meinungen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.