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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Erfindung der deutschen Küche
> Nach der Zerschlagung der Cuisine française blieb den Preußen nur
> Hausmannskost. Ein Ereignis, das sich heute zum 150. Male jährt.
Bild: Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles am 18. Januar 1871
Wir schreiben das Jahr 1871. Das Königreich Preußen hat gerade den
französischen Kaiser Napoleon III. ordentlich paniert und aus seinem Empire
die heiße Luft wie aus einem Soufflé gelassen. Und während die Pariser
Commune gerade den Ofen anwirft, um der Bourgeoisie in die Suppe zu
spucken, kommt in Versailles etwas ganz anderes auf den Tisch.
Alle Menschen, die in Deutschland zur Schule gegangen sind, kennen dieses
Gemälde von Anton von Werner. Oder sagen wir, fast alle. Okay, ein paar. Na
gut, einige wenige. Grund genug, mal genauer auf das Bild (siehe Bild) zu
schauen: Was sehen wir hier eigentlich wirklich?
Das Bild zeigt ein absurdes Ritual einer sichtlich bewaffneten
Parallelgesellschaft in einer abgeschlossenen Echokammer, die noch dazu
völlig verspiegelt ist. Kein Wunder, sind doch die Spiegel Ausdruck des
narzisstischen Weltbildes der handelnden Personen. Die Tatsache, dass einer
der Abgebildeten – ein gewisser Wilhelm (4) – sich danach sogar jahrelang
als „Kaiser“ ansprechen ließ, zeigt sehr klar, wie sehr die Mitglieder
dieser Blase aus lauter alten, weißen Männern den Kontakt zur Realität
bereits verloren haben.
Fehlen doch hier nicht nur Frauen völlig, sondern auch Vertreter anderer
marginalisierter Gruppen, wie Franzosen, Österreicher oder Dänen. Es ist
nicht einmal ein Vertreter der EU oder wenigstens der OSZE auszumachen.
Einzig ein gewisser Herzog Ernst (1), Schwager der englischen Königin,
verströmt ein wenig internationales Flair, aber das auch nur am linken
Bildrand. Sein deprimierter Gesichtsausdruck („Ich hab echt nie Glück. Mein
Bruder ist mit der englischen Königin verheiratet und ich steh hier im
hintersten Eck“) spricht Bände.
Der Einwand, dass es sich hier um die Abbildung eines rein nationalen
Ereignisses handelt, lässt sich leicht entkräften. Glänzen doch nicht nur
der bayerische und der württembergische König – so etwas gab es damals noch
– durch Abwesenheit, sondern auch der sächsische. Es ist nicht zu leugnen:
Hier feiert sich die militante Preußen-Bubble hart selber. Ausnahmen bilden
– nach dem oben genannten Ernst – lediglich Friedrich (5), der Großherzog
von Baden, dessen angespannte Körperhaltung und versteinerter
Gesichtsausdruck eindeutiges Unwohlsein erkennen lassen („Und dem Nächsten,
der sagt: Es gibt badische und symbadische, dem knall ich eine“) und der
mit 76 Jahren wohl schon an der Schwelle zum Greis stehende bayerische
Heerführer Jakob von Hartmann (7), der erst in diesem Moment zu erkennen
scheint, in welchen Schlamassel er sein Heimatland da hinein manövriert hat
(„Wos? Ja, zefix! Und jetzt soi uns a so Saupreiß’ regier’n? Dafia hauns…
do in Minga auf d’Wiesn a Mass übern Schädl.“)
## Hackordnung
Den von ihm angesprochenen preußischen Generalleutnant Leonhard von
Blumenthal (8) plagen einstweilen ganz andere Probleme, wenngleich auch er
um seinen Nachruf bangt („Wenn der Bismarck nur einen Schritt zur Seite
macht, bin ich völlig verdeckt. Und dann wird das nichts mehr mit den vier
Straßen in Berlin, die meinen Namen tragen“). Und so beginnen – wie das bei
hermetisch abgeschlossenen Gemeinschaften oft zu beobachten ist – sofort
die internen Machtkämpfe um Rang und Einfluss. Die sogenannte Hackordnung
muss ausgehandelt werden. Und den Begriff „Hackordnung“ darf man durchaus
wörtlich verstehen, wenn so viele der Beteiligten Säbel tragen.
So ist im Bildvordergrund zu sehen, wie ein gewisser Generalfeldmarschall
Moltke (10) aggressiv um die Benennung extraterrestrischer Unebenheiten
nach seiner Person verlangt („Also wenn der Blumenthal so viele Straßen
kriegt, dann möchte ich zumindest einen Mondkrater“). Das klingt heute
undenkbar, aber der Mann hat seinen Willen bekommen.
Seltsam abwesend erscheint dagegen sein Kollege Albrecht von Roon (6),
dessen Mimik sich entweder als Ausdruck einer aufkommenden Übelkeit deuten
lässt – zu deren möglichem Grund wir gleich kommen – oder eines inneren
Konflikts („Moment mal … Ich bin hier, aber ich war da doch gar nicht
dabei“).
## Was passiert hier eigentlich?
Was uns – endlich, endlich! – zur Kernfrage des Bildes bringt: Was passiert
hier eigentlich? Was ist der Anlass für den Tumult in diesem
Spiegelkabinett der Waffennarren? What’s the trouble in the bubble?
Es ist so: Der Oberkellner in der Bildmitte (9) hat die undankbare Aufgabe,
den aufgebrachten Milizionären mitzuteilen, dass sie aufgrund ihres
aggressiven Verhaltens im Ausland in den letzten sechs Jahren keinerlei
Lebensmittellieferungen aus den soeben verheerten Gebieten erwarten
dürften, wodurch sich das Speisen- und Getränkeangebot auf Produktionen aus
dem heimischen Markt beschränkt. Im Klartext: Statt Champagner und Bœuf
bourguignon gibt es nur mehr Grünkohl und Pinkel, Bratwurst und Graubrot.
Sicher tragen manche die Nachricht mit Fassung (12), anderen bleibt dagegen
der Mund vor Entsetzen offen stehen (11). Doch die Vertreter der jüngeren
Generation zeigen Initiative. So beschließt der Sohn des sogenannten
Kaisers, Friedrich (3), heimlich die Gründung eines veganen Restaurants
(„Schnell irgendwo in Berlin eröffnen, weil mein Hairstyle wird frühestens
in 150 Jahren wieder hip“), sein unbekannter Antagonist (13) auf der
gegenüberliegenden Seite des Bildes dagegen macht die kulinarische Not zur
Tugend („Dann wird eben jetzt nur noch gegrillt!“). Und findet damit auch
sofort Anhänger (14, 15: „Ja, geil, lasst uns Fleisch in Kohle
verwandeln!“).
## Kulinarische Folgen
Die schweigende Mehrheit allerdings, allegorisch vorne links in
Lackstiefeln ins Bild gesetzt, übt sich bereits in gedanklicher Emigration
(„Wenn das so ist, dann geh ich entweder zur Fremdenlegion oder werde
Sozialist“). Und sogar der sogenannte Kaiser hat einen Moment der
ungewohnten Klarheit („Na, dann hoffe ich, dass in spätestens 47 Jahren der
ganze Zinnober vorbei ist“). Ein Wunsch, der, wie wir heute wissen, in
Erfüllung gehen sollte.
Um die kulinarischen Folgen abzufedern, schuf die deutsche Ingenieurskunst
späterhin den Toast Hawaii und die Currywurst, für deren Zutaten (Ananas,
Currypulver) allerdings Kolonien errichtet werden mussten. So gelangten
auch Zimt, Kokos und Gewürznelken für die expandierende Lebkuchenproduktion
ins Land, wodurch der nachfolgende Küchenchef, Wilhelm II., einen
derartigen Heißhunger auf exquisite internationale Geschmäcker entwickelte,
dass die heiße Schlacht am kalten Buffet („1. Weltkrieg“) nicht mehr zu
vermeiden war.
Und so schreibt die Küche bis heute Geschichte. Und wird dies noch weiter
tun. Bis zum jüngsten Gericht.
18 Jan 2021
## AUTOREN
Severin Groebner
## TAGS
Die Wahrheit
Kaiser
Preußen
Lady Gaga
Schwerpunkt Coronavirus
Die Wahrheit
Rote Armee Fraktion / RAF
Satire
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