# taz.de -- Sprachpolitik bei der „New York Times“: Seismograf der Welt-Öf… | |
> Die „New York Times“ streitet über Rassismus und Sprachpolitik, | |
> Mitarbeiter*innen kündigen. Warum interessiert das die Welt? | |
Bild: Hier wollen viele hin – und wieder weg: Redaktionsgebäude der „New Y… | |
„Können wir endlich aufhören, [1][wie besessen jede Personalentscheidung] | |
der New York Times zu diskutieren?“, fragte das US-Magazin New Republic | |
gerade. Wenn sich US-Journalisten das fragen, kann man diese Frage | |
hierzulande erst recht stellen. | |
Hintergrund der Frage ist der Fall des Reporters Donald McNeil. McNeil ist | |
67 Jahre alt, 45 Jahre lang arbeitete er für die New York Times und war | |
zuletzt der führende Corona-Experte des Blattes, regelmäßig auch im | |
renommierten Podcast „The Daily“ zu Gast. Er steht nun öffentlich in der | |
Kritik, weil eine Geschichte aus dem Jahr 2019 publik geworden ist. Bei | |
einer Studienreise nach Peru hatte er sich vor Studierenden herablassend | |
über Schwarze Menschen ausgelassen. Er hat unter anderem das „N-Wort“ | |
ausgesprochen, eine rassistische Bezeichnung für Schwarze Menschen. | |
Eine Reiseteilnehmerin hatte ihn gefragt, ob er es richtig finde, dass eine | |
Schülerin von der Schule suspendiert wurde, weil sie das N-Wort | |
ausgesprochen hatte. McNeil hatte daraufhin, so sagt er heute, um den Fall | |
besser einschätzen zu können, nachgefragt, in welchem Kontext die Schülerin | |
das Wort verwendet hatte. Dabei hatte er es ausgesprochen. Niemand der | |
Anwesenden in dieser Diskussion war Schwarz. | |
Innerhalb der Zeitung ist der Vorfall lange bekannt, es gab eine interne | |
Aufarbeitung, einen Eintrag in die Personalakte. Jetzt hat ein anderes | |
Medium die Geschichte ausgegraben. Erneut: große Aufregung in und außerhalb | |
der Redaktion, 150 Mitarbeiter*innen der Times haben einen offenen | |
Brief gegen McNeil unterschrieben. | |
Nach großem Druck hat McNeil sich entschuldigt. Der Chefredakteur der | |
Zeitung, Dean Baquet, der erste Schwarze, der der Zeitung vorsteht, sagt, | |
er toleriere keine rassistische Sprache. Im März wird McNeil die New York | |
Times verlassen. Der Fall McNeil sei der „explosivste Skandal, den diese | |
Zeitung je hatte“, [2][zitiert die Vanity Fair]einen Mitarbeiter der Times. | |
Die Frage bleibt: Was interessiert uns die Personalpolitik einer | |
US-amerikanischen Zeitung? | |
## Strenge Regelungen | |
Zum einen, weil Donald McNeil nicht der Erste ist, der kürzlich die Times | |
verließ, weil er – ja, was eigentlich: „ins Fahrwasser der politischen | |
Korrektheit“ geraten ist, [3][wie mein Kollege Steffen Grimberg in der taz | |
schrieb]? Weil ihm „ein einziges“ Wort „zum Verhängnis wurde“, [4][wie… | |
FAZ kommentierte]? Oder weil, wie der Spiegel meint, [5][die „berühmteste | |
Zeitung der Welt“ ein „Haus der Angst]“ geworden sei? | |
Im vergangenen Sommer verlor die Times ihren Meinungschef James Bennet. Er | |
ließ zum Höhepunkt der Black-Lives-Matter-Bewegung den Gastbeitrag eines | |
republikanischen Senators drucken, der forderte, man solle das Militär | |
gegen die Demonstrierenden einsetzen. | |
Viele Times-Mitarbeiter*innen kritisierten den Text in den sozialen Medien. | |
Die Times unterzog den Kommentar einer internen Untersuchung und befand, | |
[6][er habe nicht den Standards der Zeitung entsprochen]. Bennet, der zuvor | |
als möglicher nächster Chefredakteur der Times gehandelt wurde, kündigte. | |
Kurz darauf verließ die Meinungsredakteurin Bari Weiss das Blatt, weil sie | |
sich zunehmend attackiert und drangsaliert fühlte, wenn sie Meinungen | |
vertrat, die vom linken Mainstream abwichen. So schrieb sie es in einem | |
offenen Brief, Kollegen [7][widersprachen dieser Darstellung öffentlich]. | |
Vor knapp vier Wochen verlor die Nachrichtenredakteurin Lauren Wolfe ihren | |
Job im Newsroom der Times. Wolfe hatte getwittert, sie habe Gänsehaut | |
gehabt, als der neue US-Präsident Joe Biden in Washington angekommen sei. | |
Ein Mitarbeiter des rechtskonservativen Fernsehsenders Fox News griff den | |
Tweet auf und kommentierte, es sei „ekelhaft“, wie Journalisten ihre | |
Objektivität aufgeben. | |
Die Times hat, anders als viele deutsche Redaktionen, [8][strenge Regeln | |
für das Verhalten ihrer Mitarbeiter*innen in den sozialen Netzwerken]. | |
Nachrichtenredakteur*innen ist es verboten, sich dort so zu äußern, | |
dass ihre Neutralität in Zweifel gezogen werden kann. Wolfe verlor ihren | |
Job. | |
## Warum polarisiert die New York Times? | |
Vor allem die Fälle des Meinungschefs Bennet und der Meinungsredakteurin | |
Weiss wurden auch über die USA hinaus bekannt. Es erschienen Artikel in | |
deutschen Zeitungen, Diskussionen in diversen Podcasts. | |
Konservative werteten die Personalien als Fälle von „Cancel Culture“, einer | |
Kultur, in der, wer die falschen Sachen sagt, die Bühne oder der Job | |
entzogen bekommt. Für andere waren vor allem die Beispiele von Bennet und | |
Weiss der Beleg für progressiven Wandel in einer altehrwürdigen Redaktion. | |
Dass die Geschichten aus der New York Times so polarisieren, liegt zum | |
einen daran, dass die Zeitung mit ihren knapp 8 Millionen Abonnenten so | |
etwas wie der Seismograf der Branche ist. Geht es ihr gut, atmen | |
Journalisten weltweit auf, weil das zeigt, dass Geldverdienen mit | |
Journalismus funktionieren kann. Ringt die Redaktion um die Linie, | |
verunsichert das Journalisten auf der ganzen Welt. | |
Als James Bennet und Bari Weiss im Sommer ihre Jobs bei der Times aufgaben, | |
[9][twitterte der Welt-Journalist Robin Alexander] „Wir sollten diese | |
Debatte in der @nytimes zur Kenntnis nehmen. Sie steht auch dem deutschen | |
Journalismus bevor.“ | |
Dabei sind wir längst mittendrin. Die [10][Diskussion um die | |
Polizei-Kolumne] der taz-Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah war dabei nur | |
der sichtbarste Streit einer Redaktion, die um Standpunkte ringt. Viele | |
Redaktionen diskutieren längst im Kleinen und Großen über Fragen von | |
Rassismus, Repräsentation und Sprachpolitik. | |
Diese Fragen durchziehen große Teile der Gesellschaft. Sie entladen sich im | |
Journalismus, weil Medien per se ein Ort der Öffentlichkeit sind und einer, | |
an dem es an Eitelkeiten nicht mangelt. Was der Fall von McNeil auch zeigt, | |
ist, wie reflexartig diese Debatten verlaufen. Das größte Vergehen, das | |
McNeil vorgeworfen wird, ist, dass er „the N-Word“ ausgesprochen habe. Es | |
war so wichtig, dass McNeils Entschuldigung sich auch fast ausschließlich | |
um die Verwendung dieses Wortes drehte. | |
## Das N-Wort war nur ein Problem | |
In einer Mail an die Redaktion schrieb er: „Als ich eine Nachfrage stellte, | |
habe ich das Schimpfwort ausgesprochen. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich | |
hatte angenommen, dass es in diesem speziellen Kontext okay gewesen sei. | |
Jetzt ist mir klar, dass es das nicht war. Das Wort ist zutiefst | |
beleidigend und verletzend. … Dafür entschuldige ich mich.“ | |
Ist es nun richtig, dass McNeill die New York Times verlassen muss? Von | |
Deutschland aus und auf Grundlage der bekannten Fakten ist es schwierig, | |
den Fall seriös zu beurteilen. Auch wenn das für viele keinen | |
Hinderungsgrund darstellt. | |
Es gibt Berichte darüber, dass McNeil ein unangenehmer Kollege gewesen sein | |
soll, was allerdings meistens keine Kündigung rechtfertigt. Seine | |
Verteidiger sagen, unangenehm sei er vor allem als gewerkschaftlich | |
engagierter Kollege für seine Chefs gewesen. | |
Es ist wichtig, über die Bedeutung und Geschichte einzelner Wörter zu | |
sprechen. Allerdings zeigt die Fixierung auf das N-Wort in diesem Fall, was | |
schiefläuft in der gesamten Debatte. Ein anderer Satz, den McNeil während | |
der Studienreise gesagt haben soll, geht in der Berichterstattung über den | |
Fall völlig unter. Dabei ist er viel problematischer. | |
## Gerade McNeil müsste es besser wissen | |
Ben Smith, der Medienkolumnist der Times, [11][zitiert ihn aus der | |
Erinnerung einer Teilnehmerin der Reise]. McNeil soll gesagt haben: „Es ist | |
frustrierend, dass Schwarze Amerikaner weiter das System beschuldigen. Aber | |
Rassismus ist vorbei. Niemand hält Schwarze mehr zurück, sie können aus | |
ihren Ghettos herauskommen, wenn sie es nur wollen.“ McNeil selbst hat sich | |
zu diesen Aussagen bisher nicht öffentlich geäußert. | |
„Rassismus ist vorbei.“ Wenn McNeil das tatsächlich gesagt hat, ignoriert | |
er damit nicht nur das Nachrichtengeschehen, das seine Zeitung täglich | |
abbildet. Er zieht auch sämtliche wissenschaftliche Erkenntnisse in | |
Zweifel. Als Wissenschaftsredakteur. | |
McNeils Berichtsgebiet, Corona, ist eines, in dem sich Rassismus deutlich | |
zeigt. Dass das Risiko, an Corona zu erkranken, für Schwarze Menschen in | |
den USA höher ist als für Weiße, [12][führen Wissenschaftler auch auf eine | |
strukturelle Diskriminierung zurück]. | |
Dass Schwarze in den USA seltener geimpft werden als Weiße – und das, | |
obwohl sie in den Pflegeberufen, die zuerst geimpft werden, | |
überrepräsentiert sind, [13][liegt laut Experten auch daran, dass in vielen | |
Wohnvierteln mit Schwarzer Bevölkerung der Impfstoff nicht ankommt]. | |
Auch wenn es in der Debatte um McNeil also um mehr als um Identitäts- und | |
Sprachfragen geht, werden sie nun überall angeführt. An ihnen entscheiden | |
sich die Zukunft der Times und der gesamten Branche. Das klingt drastisch, | |
aber sie verändern, wie Journalismus gemacht und aufgenommen wird. | |
## Die woken neuen Digitalabonnent*innen | |
Das berührt auch strategische Entscheidungen: Die New York Times steht | |
wirtschaftlich wieder gut da. Sie [14][verdient mittlerweile mehr Geld mit | |
Digital- als mit Printabos], und die Kurve geht steil nach oben. Ihre neuen | |
Digitalabonnent*innen sind meist jünger als die der gedruckten | |
Zeitung, sie führen ihre Debatten in den sozialen Medien und sind sensibler | |
für Diskriminierung. Sie sind woker als die Altabonnent*innen. | |
Die Times müsse sich entscheiden, ob sie die führende Zeitung für | |
gleichdenkende, linksliberale Amerikaner*innen sein wolle. Oder ob sie | |
versuche, an der schwindenden Mitte eines zutiefst gespaltenen Landes | |
festzuhalten, schreibt der Times-Medienkolumnist Ben Smith. Das schreibt er | |
vor einem Hintergrund, der ein anderer ist als in Deutschland: Zwar werden | |
diese Debatten hierzulande auch hitzig geführt, aber eben auch ein ganzes | |
Stück weniger hitzig als in den USA. | |
Es ist also weniger größenwahnsinnig, als es auf den ersten Blick klingt, | |
wenn der Medienkolumnist der Times die Frage, ob wir endlich aufhören | |
können, über die Personalpolitik seiner Zeitung zu debattieren, beantwortet | |
mit: „Noch nicht.“ | |
21 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Vorwuerfe-gegen-US-Tageszeitung/!5696012 | |
[2] https://www.vanityfair.com/news/2021/02/behind-the-scenes-of-donald-mcneils… | |
[3] /Medien-und-Political-Correctness/!5753003 | |
[4] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/rassismus-bei-new-york-times-… | |
[5] https://www.spiegel.de/politik/ausland/new-york-times-wird-die-beruehmteste… | |
[6] https://www.nytimes.com/2020/06/04/business/new-york-times-op-ed-cotton.html | |
[7] https://twitter.com/johnwilliamsnyt/status/1268642324155949056?s=20 | |
[8] https://www.nytimes.com/2017/10/13/reader-center/social-media-guidelines.ht… | |
[9] https://twitter.com/robinalexander_/status/1268789350231347207?s=20 | |
[10] /Presserat-ueber-die-Polizei-Kolumne/!5712762 | |
[11] https://www.nytimes.com/2021/02/14/business/media/new-york-times-donald-mc… | |
[12] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7375320/ | |
[13] https://www.rnd.de/gesundheit/corona-Impfung-in-den-usa-schwarze-werden-wo… | |
[14] https://www.niemanlab.org/2020/11/for-the-first-time-the-new-york-times-di… | |
## AUTOREN | |
Anne Fromm | |
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