Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Nachruf auf Christian Broecking: Widerspruch zum Status Quo
> Christian Broecking liebte, vermittelte und kritisierte Jazz. Der
> Musikkritiker war im Jazz lebendig und politisch. Er wurde 63 Jahre alt.
Bild: Christian Broecking schrieb in der taz viele Jahre lang Kolumnen
Er kannte sie alle. Herbie Hancock, Sonny Rollins oder Cassandra Wilson
interviewte er viele Male, [1][Ornette Coleman] besuchte er nach Konzerten,
mit Wynton Marsalis war er eng befreundet. Wenn man Christian Broecking
traf, tauchte man mit ihm tief ein in die Welt des Jazz. Doch Christian
erzählte keine ollen Kamellen, wiederholte sich nicht, nein, er war
lebendig im Jazz und der Jazz lebte in ihm. Und nicht nur der Jazz.
Christian Broecking war einer der bedeutendsten Musikkritiker im
deutschsprachigen Raum, er war Uni-Dozent, Gründungsdirektor von Jazz Radio
Berlin und Redaktionsleiter von Klassik Radio in Frankfurt am Main. Er
brachte uns den Jazz in all seinen Spielarten nahe und er konnte ihn
kontextualisieren.
Gerade als Radiomacher sah er aber, wie sehr der Gedanke, dass im Jazz
Gesellschaft wirkt und dass der Jazz in die Gesellschaft wirken müsse,
immer weiter verwässert wurde. Sah, wie die immergleichen Klassiker
gespielt wurden – gern nur in Ausschnitten – und dass komplexere
Arrangements und aufstörende Stücke gar nicht mehr für eine Sendung infrage
kamen.
Er jedoch hatte nicht nur spät – im Jahr 2011 – über die gesellschaftliche
Relevanz afroamerikanischer Musik promoviert, sondern war sein ganzes Leben
lang politisch aktiv, war Antirassist und kämpfte für eine bessere
Gesellschaft. Als Förderer ebenso wie als Kritiker. Er konnte daher den
„klassischen schwarzen Jazz“ seines Freundes Marsalis ebenso politisch
verstehen, wie er ein Fan des freien Zusammenspiels war, der „Fire Music“,
also jener avantgardistischen Spielart, gegen die Marsalis polemisiert hat,
da dieser das Erbe der großen schwarzen Musiker:innen in Gefahr wähnt.
Über Genre-Grenzen hinweg
Christian Broecking ging, so schrieb er 2011, „der Frage nach, wie die
Erfahrung und Auseinandersetzung mit Rassismus, Segregation und
Besitzlosigkeit das Werk der Improvisatoren und Interpreten beeinflusst und
geprägt hat. Die Haltung dieser Künstler impliziert dabei oft nicht nur
einen Freiheitsbegriff, der weit über das Alltagspolitische hinausweist,
sondern artikuliert einen grundsätzlich gemeinten Widerspruch zum Status
Quo. Das betrifft nicht nur musikalische Besitzverhältnisse und ästhetische
Definitionsmacht, sondern ein gewachsenes, historisch bedingtes Misstrauen
gegenüber etablierten Strukturen und kommerziell geprägten Abhängigkeiten
per se.“
In seiner langjährigen [2][Kolumne in der taz], im Tagesspiegel, der
Berliner Zeitung und der Zeit, bei Jazz Thing oder im Radio – stets merkte
man den theoriesatten Denker, der mit seinem Wissen nicht beeindrucken
musste. Er vermittelte. Und scherte sich dabei auch nicht immer um
Genre-Grenzen.
Ich durfte Anfang des Jahrtausends die „Respekt“-Trilogie (bestehend aus
den Büchern „Respekt“, „Black Codes“ und „Jeder Ton eine Rettungssta…
von Christian in meinem Verlag publizieren. Diese Bücher beweisen – wie all
seine Schriften – seine große Einfühlsamkeit, die seine
Interviewparter:innen Offenheit gestattete, sowie eine entschieden
kritische Haltung, die er seinen Gesprächspartner:innen nicht verbarg.
Die besten seiner vielen Bücher, auch die Trilogie, sind heute in seinem
Verlag, dem Broecking Verlag, zu beziehen. Als sein letztes Buch erschien
dort 2016 eine Monographie über die Schweizer Freejazzerin Irène Schweizer
– auch sie selbstverständlich ein politischer Kopf.
Christian Broecking war bei aller Schärfe seines Urteils ein ungemein
offener, sehr zugewandter Mensch, ein genauer Autor und ein präziser
Beobachter. Er gab keine Produktempfehlungen, er sortierte ein. Zugleich
blieb er lebenslang ein Fan. So hat die Musikkritik am Dienstag eines ihrer
Vorbilder verloren. Christian Broecking wurde 63 Jahre alt.
6 Feb 2021
## LINKS
[1] /Jazzkolumne/!5175473
[2] /Jazz-Saxofonist-Sonny-Rollins/!5170694
## AUTOREN
Jörg Sundermeier
## TAGS
Antirassismus
Jazz
Nachruf
Jazz
## ARTIKEL ZUM THEMA
100. Geburtstag von Thelonious Monk: Der Gott des Jazz
Thelonious Monk veränderte die Jazzmusik auf gleich zwei Kontinenten. Für
den radikalen Künstler gab es „keine falschen Töne“.
Jazz: Der Boss sieht schwarz
Ein Treffen mit dem mächtigsten Mann im Jazz, George Wein, der 1954 das
berühmte Newport Jazz Festival erfand.
Jazz: Selbstorganisation heißt selbst machen
Die New Yorker Szene muss ihre Zukunft planen. Ornette Coleman denkt über
letzte Fragen nach. Ein Bericht vom Vision Festival.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.