# taz.de -- Jazz: Selbstorganisation heißt selbst machen | |
> Die New Yorker Szene muss ihre Zukunft planen. Ornette Coleman denkt über | |
> letzte Fragen nach. Ein Bericht vom Vision Festival. | |
Bild: Ornette Coleman im Februar in der Essener Philhamonie | |
Die Synagoge, in der das Vision Festival stattfindet, liegt nahe dem | |
einstigen Tonic in der Norfolk Street in NoHo, Manhattan. Als der | |
Veranstaltungsort für experimentelle Livemusik vor gut zwei Monaten | |
schließen musste, war die Aufregung groß. Manhattan habe jetzt keinen | |
größeren Aufführungsort für die einst als Downtown-Szene bekannt gewordenen | |
Musiker mehr - der Gitarrist Marc Ribot spielte das letzte Solo unmittelbar | |
vor der Tonic-Schließung am 14. April und wurde danach von der Polizei | |
abgeführt. Als letztes Stück hatte er "The Nearness of You" gewählt - er | |
hätte auch ein verzerrtes Krach-Solo spielen können, berichtet Ribot im | |
Gespräch, doch dieser scheinbar harmlose Standard habe in dem Moment mehr | |
mit dem zu tun gehabt, was er damals empfand: Wut, Trauer und Sehnsucht. | |
Nicht nur seiner Meinung nach signalisiert die Tonic-Schließung das Ende | |
einer Epoche. Die Zeit, als John Zorn in die Lower East Side zog, weil die | |
Wohnungskaufpreise für Künstler dort radikal subventioniert wurden, ist | |
vorbei. Und die Diskussion darüber, wie die New Yorker Avantgarde auch | |
zukünftig in Manhattan arbeiten und leben kann, ist erst angeschoben. Auch | |
die Vision-Festival-Macherin, Patricia Nicholson Parker, hat sich da sehr | |
engagiert: Bei der Eröffnung des Festivals ruft sie dazu auf, sich in | |
Listen einzutragen, um damit die Forderung nach einer subventionierten | |
Spielstätte für aktuelle improvisierte Musik in Manhattan zu unterstützen. | |
Dass der Bassist Henry Grimes die schnelllebige Avantgardegeneration der | |
Sechziger überlebt hat, grenzt heute fast an ein Wunder. Plötzlich, 1967, | |
nach drei Jahren in Albert Aylers Band, verschwand er, und man hörte über | |
30 Jahre nichts von ihm. Ayler starb 1970, Grimes lebt heute in New York | |
und steht für Auftritte und Workshops zur Verfügung. Doch wenn man mit ihm | |
spricht, bleibt unklar, was für ihn Gegenwart bedeutet. Über Albert Ayler | |
spricht er im Präsens. Er sei mit ihm befreundet, sagt Grimes, er kenne | |
ihn, seitdem Albert zusammen mit seinem Bruder, dem Trompeter Donald, aus | |
Cleveland in die Hauptstadt des Jazz kam. In der Marc-Ribot-Band Spiritual | |
Unity spielt Grimes beim Vision Festival die großen Ayler-Hymnen mit - | |
damals in den Sechzigern soll er den Bass fast zum Explodieren gebracht | |
haben, heute steht er etwas entrückt im Bühnengeschehen, Ribot spielt die | |
Ayler-Themen und -Soli: verzerrte Freude. | |
Am 5. Oktober wird der Trompeter Bill Dixon 82, beim 12. Vision Festival | |
ist er der Ehrengast. Der Trompete sei es egal, was man mit ihr anstellt, | |
sagt Dixon. Nur ein Stück Metall. Die Schreibmaschine kümmere es auch | |
nicht, ob auf ihr religiöse Gedichte, erotische Romane oder politische | |
Pamphlete getippt werden. Bill Dixon war College-Musiklehrer, mit 70 ging | |
er in den Ruhestand. 1964 hatte er die Oktoberrevolution im New Yorker Jazz | |
initiiert, eine Musiker-Initiative, der es um Selbstorganisation und | |
Unabhängigkeit ging. Junge Leute sollten alles darüber wissen, sagt er, die | |
Erfahrungen von damals seien heute gültiger denn je. | |
Sein Orchester ist ein Vulkan. Nach über eine Stunde zieht sich Dixon | |
erschöpft von der Bühne zurück. Stehende Ovationen für eine Komposition der | |
abrupten Brüche, mit großen Soli im Stile Dixonscher Geräuschmusik zwischen | |
Stockhausen und vorbeihupenden Güterzügen. Danach spielt Grimes ein | |
Geigensolo für Dixon - warm, herzlich. Die Klimaanlage ist runtergestellt, | |
doch es ist Sommer in New York: Draußen sehr heiß, T-Shirt-Wetter auch | |
nachts, drinnen braucht man oft eine Jacke. | |
Von einem Schwächeanfall während eines Konzertes vor gut einer Woche hat | |
sich der Free-Jazz-Visionär Ornette Coleman sichtlich gut erholt. Es sei | |
einfach zu heiß gewesen, berichtet Coleman beim Gespräch in seinem Studio. | |
Jetzt denkt der 77-Jährige über letzte Fragen nach: Ob Sound unsterblich | |
sei und Religion und Liebe die Menschen einmal erfüllen werden. Ist es | |
machbar, dass die Menschen nicht mehr nach Hautfarbe und | |
Klassenzugehörigkeit unterschieden werden? | |
Andererseits wisse er auch, dass das kapitalistische System solchen | |
Wünschen Schranken setze. Er sei in Armut aufgewachsen, als seine Mutter | |
ihm dennoch ein Saxofon schenkte, habe er das erst nur für ein Spielzeug | |
gehalten. Später habe er sich im Selbstunterricht das Spielen des | |
Instruments beigebracht und gewundert, dass das seine Lebensumstände | |
überhaupt nicht veränderte. Heute könne er sagen, dass es sich gelohnt | |
habe, ehrlich und wahrhaftig zu sein und seinen Weg zu gehen, so hart es | |
auch gewesen sein mag. In diesem Jahr wurde er mit einem Grammy und dem | |
Pulitzer-Preis ausgezeichnet - dass Gott und Hund im Englischen gleich | |
buchstabiert werden, schließt Coleman das Gespräch auf die ihm eigene | |
enigmatische Art, das empfinde er als höchst fragwürdig. | |
26 Jun 2007 | |
## AUTOREN | |
Christian Broecking | |
## TAGS | |
Antirassismus | |
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