# taz.de -- Jazzkolumne: Der Revolutionär auf dem roten Sofa | |
> Zu Besuch beim Jazzpionier Ornette Coleman. Am 2. Oktober wird er in | |
> Heidelberg auftreten. | |
Bild: Ornette Colemann, Saxophonist und Freejazzer. | |
In seiner Begriffswelt spielen Vagina und Wahrhaftigkeit, Glaube, | |
Kapitalismus und Liebe ganz große Rollen. In dem 1986 veröffentlichten Film | |
"Ornette: Made in America" erzählt er, warum er sich vom Sex einst durch | |
Kastration habe befreien wollen und dass der Arzt ihm zur Beschneidung | |
riet. Die Filmemacherin Shirley Clarke hat dazu Bilder von der ersten | |
Mondlandung montiert. | |
"Beethoven war schwarz", sagt Ornette Coleman zehn Jahre später; ein | |
musikalisches Konzept, das weiß heißt, existiere für ihn nicht. Musik habe | |
es bereits gegeben, bevor man wusste, was Farben sind. Aber die Weißen | |
hätten jeden ausgegrenzt, der nicht das spielte, woran sie glaubten, an die | |
Musik also, die sie weiß nennen. Und seitdem sei alles | |
durcheinandergeraten: "Ich spreche nicht von weiß und schwarz, sondern von | |
der Philosophie des Lebens." | |
Jetzt, mit 78 Jahren, sitzt der Soundrevolutionär und Saxophonist auf einem | |
roten Sofa in seinem großzügigen Loft in Manhattan und berichtet, wie es | |
ihm seitdem ergangen ist: "Ich habe herausgefunden, dass Rassismus nichts | |
mit Hautfarbe zu tun hat", sagt Coleman. "Ich bin in großer Armut | |
aufgewachsen, und ich habe mich immer gefragt, wie man meine Umgebung | |
positiv verändern kann. Wie man etwas Lebenswertes schaffen kann. Meine | |
Mutter war religiös und damit beschäftigt, ein guter Mensch zu sein. Sie | |
ermutigte mich, meinen Weg zu gehen, sie wollte mich nie kontrollieren oder | |
formen. Sie hatte recht damit. Heute kann ich sagen, dass ich überlebt | |
habe, weil ich etwas geschaffen habe, das auch anderen Menschen etwas | |
bedeutet." | |
Nach seinem Comeback mit der Live-CD "Sound Grammar", 2005 beim "Enjoy | |
Jazz"-Festival in Ludwigshafen mitgeschnitten, wurde Coleman im vergangenen | |
Jahr mit einem Grammy und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Coleman spricht | |
in diesem Zusammenhang vom menschlichen Faktor und dass Kunst mit der | |
Fähigkeit zu tun hat, die Vorstellung von etwas Schönem lebendig werden zu | |
lassen. | |
Dass er in Fort Worth, Texas, in einem rassistischen Spannungsfeld | |
aufwuchs, interessiert ihn als Thema nicht. Er möchte seine Zeit nicht | |
damit vertun, über Dinge nachzudenken, die ihn einst eingeengt und | |
behindert haben. Die Zeit der Segregation habe er in seiner Musik schon | |
lange vor deren gesetzmäßiger Abschaffung überwunden. Sein Vater starb | |
früh, er kann sich an ihn nicht erinnern, und dass seine Eltern beide am | |
25. Dezember Geburtstag hatten, habe er erst viel später erfahren. | |
"Ich bin von Frauen erzogen worden, es gab keinen Mann in der Familie. Und | |
ich habe bis heute nicht mit Männern zu tun gehabt, gegenüber denen ich | |
mich in der Rolle eines Mannes habe behaupten müssen. Und das, obwohl ich | |
mir alles selbst beigebracht habe. So habe ich gelernt, mein Instrument zu | |
spielen, zu komponieren und wie man Sachen macht, die Männer so tun. Ich | |
muss Fehler, die mir unterlaufen, nicht kaschieren. Mein musikalisches | |
System basiert darauf, dass ich mit anderen teilen möchte. Wenn ich | |
beschreiben könnte, was ich fühle, wäre die Welt ein Ort des Glücks." | |
Seine Lebenserfahrung basiere darauf, dass er einer Minderheit angehört, | |
sagt Coleman. Er spreche Englisch und sehe einem Afrikaner ähnlich. "Als | |
meine Mutter mir ein Saxofon schenkte, wusste ich damit nichts anzufangen. | |
Und auch als ich bereits eine Symphonie komponieren konnte, litt ich immer | |
noch unter den schrecklichen Verhältnissen, wie sie damals besonders im | |
Süden der USA herrschten. Nachdem ich viele Platten gemacht und viele | |
Länder gesehen habe, kann ich heute sagen, dass ich meinen Glauben an die | |
menschlichen Grundwerte nicht verloren habe. Wie ich mir das alles | |
beibringen konnte? Durch Tränen. Ich war traurig. Eine Träne kann | |
offenbaren, was den Einsamen sonst verbaut ist. Ich erlebe das bis heute." | |
Sound ist für ihn ein Zeichen, das Ewigkeit symbolisiert. Und er könne das | |
Leben der Menschen zum Guten wenden, glaubt Coleman, er habe Menschen bei | |
seiner Musik weinen und lachen sehen. "Ich möchte keiner Bewegung vorstehen | |
und über keinen Menschen bestimmen. Ich antworte gern, wenn man mich fragt, | |
aber ich möchte kein Lehrer sein. Jeder muss selbst verantworten, was er | |
tut. Identität funktioniert nicht, wenn sie den Segen anderer braucht. Ich | |
bin mehrere Male getauft worden und habe verschiedene Religionen erlebt. In | |
meinem Leben ziehe ich es vor, ehrlich zu sein, nicht zu lügen und nicht | |
die Frau eines anderen zu verführen. Wenn meine Freundin mit mir nicht | |
klarkommt, ermutige ich sie, einen passenderen Partner zu finden." Ornette | |
Coleman hofft, einen Sound entwickelt zu haben, der frei jeglicher | |
Aggression ist. Sound ist für ihn keine Waffe, sondern die höchste Form des | |
Friedens unter den Menschen. | |
23 Sep 2008 | |
## AUTOREN | |
Christian Broecking | |
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