# taz.de -- Endlagersuche in Nordbrandenburg: Helle und der Atommüll | |
> Ein Salzstock macht ihr Dorf zum möglichen Ort für ein Atommüllendlager. | |
> Bei der ersten bundesweiten Bürgerbeteiligungskonferenz zur Standortsuche | |
> möchten die Leute aus Helle mitbestimmen. | |
Bild: Gelbe Kreuze sollen das Ausmaß des Salzstocks auch oberirdisch sichtbar … | |
Deutschland sucht ein Atommülllager“, könnte das Motto dieses Wochenendes | |
heißen, wenn die Sache nicht so ernst wäre. 27.000 Kubikmeter | |
hochradioaktiver Müll müssen unter die Erde. Das Suchverfahren nach einem | |
Standort soll partizipativ, transparent, selbsthinterfragend und lernend | |
sein, so schreibt es das eigens hierfür geschaffene Standortauswahlgesetz | |
vor. An diesem Wochenende beginnt mit der ersten „Fachkonferenz | |
Teilgebiete“ der formelle Bürgerbeteiligungsprozess bei der Suche nach | |
einem geeigneten Standort für ein Endlager für den bundesdeutschen | |
Atommüll. Jeder soll sich beteiligen können, alle sollen mitgenommen | |
werden, damit der soziale Frieden gewahrt bleibt. | |
Doch Gründe für Zweifel, dass es eine wirkliche Bürgerbeteiligung wird oder | |
am Ende nur eine Show, gibt es viele. Einer ist der enge Zeitplan: Es geht | |
um unvorstellbare eine Million Jahre, die der strahlende Müll sicher | |
gelagert werden muss, aber alle fühlen sich gehetzt durch ein Verfahren, | |
das mit Zeit geizt. Beteiligung aber braucht Zeit und lebendige Begegnung, | |
die angesichts der Pandemie nicht möglich ist. | |
Welche Konsequenzen das hat, sieht man in Helle, einem kleinen Dorf in der | |
Prignitz, 140 Kilometer nordwestlich von Berlin in Brandenburg. Als die | |
Bundesgesellschaft für Endlagerung BGE am 28. September 2020 ihren | |
Zwischenbericht nach der ersten Phase der Datenrecherche veröffentlicht, | |
ist auch der Salzstock Helle unter den 90 potenziellen Erkundungsstandorten | |
– für alle dort und im Umkreis ein Schock. | |
Helle hat 36 Einwohner und einige Wochenendpendler. Jeder kennt jeden, aber | |
dass man auf einem Salzstock lebt, der den Namen des Ortes trägt, wusste | |
niemand. Der Bürgermeister erinnert sich später, dass in den 1970er Jahren | |
nach Braunkohle und Gas gebohrt wurde. Aber von Salz war nie die Rede. | |
Das Dörfchen Helle gehört zur Gemeinde Groß Pankow. In deren Rathaus laufen | |
in den letzten Septembertagen die Telefone heiß. „Wie das Verfahren | |
funktioniert, ist viel zu komplex für eine Schlagzeile“, sagt Bürgermeister | |
Marco Radloff rückblickend, „da kommt bei den meisten nur an: Helle wird | |
Atommülllager“. | |
Sogar direkt ins Rathaus kamen die Leute und wollten wissen, was los ist. | |
Das ist bemerkenswert in einer Gemeinde, die sich über eine Fläche von 250 | |
Quadratkilometern erstreckt. Ende September vergangenen Jahres war unter | |
Auflagen im Rathaus noch Publikumsverkehr zugelassen. | |
Unter anderen Bedingungen hätte der Gemeinderat zu einer | |
Informationsveranstaltung in die Turnhalle der Grundschule eingeladen. Man | |
hätte über das mehrstufige Such- und Beteiligungsverfahren informieren | |
können, mit ausreichend Raum für Fragen und wahrscheinlich lebhafter | |
Diskussion. Doch das geht coronabedingt auf unabsehbare Zeit nicht. Der | |
Beteiligungsprozess, bei dem alle mitgenommen werden sollen, ist damit | |
gleich am Anfang ins Stocken geraten. | |
In Helle versucht man, sich erst mal zu sammeln. Das kleine Dorf ist | |
idyllisch, umgeben von viel Wasser und Wald, Natur- und | |
Vogelschutzgebieten. Die meisten Häuser stehen im Kreis um eine mit | |
Feldsteinen eingehegte Wiese, in der Mitte die kleine Kirche und der Mast | |
mit dem Storchennest. Anfang Oktober ist es noch warm genug, sich hier im | |
Freien zu einem ersten Austausch zu treffen. Die Ortsvorstehenden mehrerer | |
benachbarter Dörfer sind gekommen, auch der Bürgermeister. Es wird vor | |
allem über Ängste gesprochen und die Wut darüber, so überrumpelt worden zu | |
sein. Alle haben es aus der Zeitung erfahren. | |
Ende Oktober gibt es ein zweites Treffen auf dem Kirchplatz. Eine | |
Initiative soll gegründet werden. Die Auftaktveranstaltung für das formelle | |
Beteiligungsverfahren „Fachkonferenz Teilgebiete“ hat da schon | |
stattgefunden – als Onlineformat, denn Treffen in geschlossenen Räumen sind | |
coronabedingt untersagt. | |
Auch die Versammlung in Helle unter freiem Himmel kann nur stattfinden, | |
weil sie als politische Veranstaltung angemeldet ist. Wer kommen will, soll | |
einen Klappstuhl und eine Decke mitbringen. Der Stuhlkreis ist groß. | |
Dreißig Namen stehen am Ende auf der Interessiertenliste mit Adressen in | |
Dörfern wie Wolfshagen, Kuhsdorf, Hasenwinkel und Bullendorf; Ortsnamen, | |
die viel über den Charakter dieses Landstrichs aussagen. Viele haben Sorge, | |
dass der Müll am Ende dahin kommt, wo die wenigsten Menschen leben. Und das | |
ist in Deutschland der Landkreis Prignitz mit 36 Einwohnern pro | |
Quadratkilometer, in der Gemeinde Groß Pankow sind es sogar nur 15. | |
In der Runde für das Stimmungsbild fühlen sich viele einig miteinander, | |
aber genauer betrachtet gehen die Positionen auseinander, von „Hier nicht“ | |
über „Wir müssen alle Verantwortung tragen“ bis zur Infragestellung der | |
Endlagersuche, der Wissensstand sowieso. Ideen werden gesammelt. Der | |
Vorschlag, eine große Informationsveranstaltung zu machen, taucht immer | |
wieder auf, stets gefolgt von einem „Stimmt, ist ja nicht möglich“. Man | |
muss jetzt völlig umdenken. Es ist kalt. Bevor die Runde für das | |
Stimmungsbild zu Ende ist, wird es dunkel. Dann fängt es auch noch an zu | |
regnen. Das war das letzte Treffen. Ab dem nächsten Tag gilt in der | |
Prignitz die Stufe zwei der Pandemiemaßnahmen, und alles geht nur noch | |
online. Per Mail werden nun also Ziele, Anliegen, Themen und Vorschläge für | |
Arbeitsgruppen gesammelt. Die ersten Zoomtreffen finden statt. Die | |
Onlinekommunikation schließt viele aus. Aber es sind immer noch acht, | |
manchmal sogar zwölf dabei. Ein Name muss für die Initiative gefunden | |
werden und wird heftig diskutiert. Die Mehrheit ist zunächst für | |
„Atommüllfreie Prignitz“. Am Ende heißt sie „Wohin damit“. | |
Dazwischen liegen nicht nur viele Diskussionen, sondern auch die | |
Auseinandersetzung mit der eigenen Zerrissenheit. Für Jost Löber war der | |
Punkt am schwierigsten: sich einzugestehen, dass das Zeug aufbewahrt werden | |
muss, er seine Lebenswelt aber nicht dafür zur Verfügung stellen will. | |
Wegen der Kinder. „Das ist eine Zerreißprobe. Rational und emotional fallen | |
völlig auseinander. Zigtausend Menschen in ganz Deutschland geht das gerade | |
ähnlich“, sagt er. Jost ist vor 30 Jahren in das Nachbardorf Horst gezogen. | |
Er ist Künstler und hat sich hier eine Existenz aufgebaut, so wie viele, | |
die in den 90er Jahren kamen. Da gibt es viel zu verteidigen. | |
Jutta Röder ist mit 67 Jahren die Älteste in der Gruppe und schon zu | |
DDR-Zeiten nach Helle gezogen. Die pensionierte Lehrerin sieht die Lage | |
nach dem ersten Schock pragmatisch: „Ich würde hier gern unbedarft | |
weiterleben. Aber man möchte den Müll auch niemand anderem zumuten. Am Ende | |
muss er ja irgendwohin.“ Alles hängt von der Transparenz und der | |
Glaubwürdigkeit des Standortauswahlverfahrens ab, darin sind sich alle | |
Mitglieder der Initiative einig. | |
„Wenn mir überzeugend bewiesen würde, dass das hier der am wenigsten | |
unsichere Ort in Deutschland ist, dann müsste ich das akzeptieren, trotz | |
Angst“, sagt Benjamin Voelkel. Er gehört zu denen, die erst kürzlich nach | |
Helle gezogen sind. Vor zwei Jahren ist er mit der Familie hergekommen und | |
arbeitet von hier aus als freier Übersetzer und Lektor. | |
Mit dem Namen „Wohin damit“ geht es der Gruppe darum, das Fragezeichen | |
sichtbar zu machen, das man innerlich spürt. „Das Fragezeichen ist eine | |
Aufforderung zur Beteiligung und ein Ausdruck der Offenheit des Prozesses, | |
den wir machen. Wir sind nicht die, die auf die Frage: Wohin damit? eine | |
Antwort geben können. Das ist nicht unsere Aufgabe. Wir stellen uns diese | |
Frage dennoch, wie viele andere auch“, erklärt Benjamin. | |
Der Begriff Beteiligung klingt nach Mitbestimmung. So ist auch zunächst die | |
Erwartung der Initiative an das Beteiligungsverfahren: dass man | |
mitbestimmen kann. Diese Aussicht ist Motivation, sich schnell | |
einzuarbeiten, um sich an der Fachkonferenz zu beteiligen. Die | |
Fachkonferenz erörtert den Zwischenbericht, ihre Ergebnisse müssen bei der | |
weiteren Standortsuche berücksichtigt werden. So steht es im Gesetz, und | |
das hört sich gut an. | |
Doch nach und nach wird den Menschen in Helle klar: „Berücksichtigen“ hei�… | |
juristisch nur „zur Kenntnis nehmen“. Eine wirkliche Einflussmöglichkeit | |
ist das ihrer Meinung nach nicht. Verärgert sind sie auch darüber, dass die | |
Standortsuche weitergeht. Wenn die Ergebnisse der Fachkonferenz im Juni | |
vorliegen, ist der Zwischenbericht schon veraltet. Auch das | |
Beteiligungsverfahren war bisher wenig beeinflussbar. | |
„Für uns ist das Verfahren wie ein Zug“, sagt Benjamin, „du kannst dich | |
entscheiden, einzusteigen oder nicht. Alles andere steht fest: der | |
Fahrplan, die Haltepunkte und auch die Endstation.“ Er ist inzwischen sehr | |
frustriert. „Als ich von dem Beteiligungsverfahren gehört habe, war sofort | |
klar: Natürlich mache ich mit.“ Nach vier Monaten hat er mittlerweile das | |
Vertrauen in das Verfahren verloren, gerade weil er den Aufruf zur | |
Öffentlichkeitsbeteiligung ernst genommen und trotz Homeschooling sehr viel | |
Zeit damit verbracht hat. | |
Alle in Helle leiden unter dem Zeitdruck. Das Gefühl der Überforderung ist | |
seit dem schicksalhaften 28. September chronisch, die Materie unglaublich | |
komplex. Man teilt sich auf. Die einen versuchen, den schwer zugänglichen | |
Zwischenbericht zu verstehen, recherchieren, was Salzdiapire sind und warum | |
seismische Störzonen einmal so und einmal anders bewertet werden. Andere | |
arbeiten sich ins Beteiligungsverfahren ein oder suchen die Vernetzung mit | |
anderen Betroffenen und nutzen die Informationsangebote der | |
Anti-Atom-Netzwerke. | |
Zwei Institutionen sind für das Verfahren zuständig und damit auch für | |
dessen Transparenz: die Gesellschaft für Endlagerung BGE und das Bundesamt | |
für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung BASE. Deren digitales | |
Informationsangebot ist zwar riesig, aber unübersichtlich und schwer zu | |
erschließen. „Man wird zugeschüttet mit einer Vielzahl unterschiedlicher | |
Informations- und Kommunikationsformate, ohne davon schlauer zu werden“, | |
meint Chady Seubert, „das ruft das ungute Gefühl hervor, man soll mehr | |
beschäftigt als beteiligt werden.“ | |
Nahrung bekommt dieses Gefühl auch dadurch, dass es immer nur um Geologie | |
und unermessliche Zeithorizonte geht, aber nichts darüber zu erfahren ist, | |
was zeitnah über der Erde passiert: Wie groß wird die Infrastruktur für den | |
Antransport des Materials werden? Wie hoch wird die Strahlenbelastung bei | |
Umverpackung und Einlagerung? | |
Chady Seubert lebt schon mehr als ihr halbes Leben in Pritzwalk, der Stadt, | |
die an die Gemeinde Groß Pankow grenzt. Sie hat einen Kulturverein | |
aufgebaut und arbeitet mit im Wandelladen in der Innenstadt, dessen | |
Schaufenster die Initiative zur Information über die Endlagersuche nutzt. | |
Sie will so wenigstens etwas Öffentlichkeit schaffen. In der Zeitung hat | |
lange nichts mehr gestanden, und online informieren sich nur die, die es eh | |
schon wissen. | |
Die letzten Tage hat Chady mit der Herstellung von großen gelben X-Kreuzen | |
zugebracht. Sie stehen jetzt an Weggabelungen oder anderen exponierten | |
Stellen, um den Umriss des zehn Quadratkilometer großen Salzstocks zu | |
markieren. So kann nun immerhin jeder sehen, um welches Gebiet es geht. | |
Derweil werden die Stimmen immer mehr, die fordern, das Verfahren | |
auszusetzen, bis die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen aufgehoben | |
sind. Die Kommunen im Nachbarlandkreis Ostprignitz-Ruppin haben sich Ende | |
Januar mit der Forderung an das BASE gewandt, das Verfahren zu | |
unterbrechen, „um die gesetzlich gewollte Transparenz und | |
Öffentlichkeitsbeteiligung auch wirklich herstellen zu können“. Der | |
Landkreis Lüneburg hatte das schon im Dezember gefordert. Auch das | |
Nationale Begleitgremium, das eine Wächterfunktion für das | |
Beteiligungsverfahren hat, empfiehlt die Verschiebung und lässt prüfen, ob | |
ein reines Onlineverfahren den gesetzlichen Vorgaben entspricht. | |
Der Bürgermeister von Groß Pankow sieht neben der eingeschränkten | |
Öffentlichkeitsbeteiligung durch die Pandemie auch in der Belastung der | |
Verwaltungen einen Grund, das Verfahren auszusetzen. Die Teilnahme sei für | |
die Kommune extrem zeitintensiv, „und das ausgerechnet jetzt, wo die | |
Kommunen im Ausnahmezustand sind. Allein die Organisation der Notbetreuung | |
in Kitas und der Grundschule verlangt der Verwaltung viel ab“. | |
Dabei geht es um viel: Für die Gemeinde Groß Pankow wäre es schon ein | |
herber Rückschlag, sollte der Heller Salzstock in die nächste | |
Erkundungsrunde kommen. Nach 20 Jahren Abwanderung gibt es seit Kurzem | |
endlich eine Trendwende. Es ziehen wieder junge Leute hierher. Das würde | |
jäh gestoppt. Für die ganze Region wäre es ein schwerer Imageverlust, die | |
vielen Bemühungen, den Tourismus zu entwickeln, wären zunichtegemacht. An | |
diesem Wochenende wird der Bürgermeister wieder zwei ganze Tage mit der | |
Fachkonferenz verbringen. | |
So wie auch Benjamin, Chady, Gabi und Lutz von „Wohin damit“. Benjamin mit | |
Wut, wenn er daran denkt, dass das Problem mit dem Atommüll von Anfang an | |
klar war, Konzerne Profite damit gemacht haben und aus der Haftung | |
entlassen wurden, während die gesamte Gesellschaft jetzt in die | |
Verantwortung genommen wird, dafür eine Lösung zu finden. „Wenn die | |
Öffentlichkeit nur pro forma beteiligt wird, schafft das Misstrauen ins | |
gesamte Verfahren. Wer sagt uns, dass am Ende wirklich eine | |
verantwortungsvolle Lösung gewählt wird?“ | |
Nach der Konferenz soll es weitergehen mit dem Aufbau der Bürgerinitiative. | |
Es gibt noch keine Webseite, auch eine Pressemitteilung steht noch aus, | |
aber das findet „Wohin damit“ nicht schlimm. Man hat sich auf einen | |
Langstreckenlauf eingelassen. Da kommt es auf einen oder zwei Monate nicht | |
an. | |
6 Feb 2021 | |
## AUTOREN | |
Beate Selders | |
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