| # taz.de -- Bitterstoffe und Ernährung: Wie heißt das Zauberwort? | |
| > Bitterstoffe sind äußerst gesund, aber mittlerweile fast komplett aus | |
| > unseren Nahrungsmitteln verschwunden. Das kann unangenehme Folgen haben. | |
| Bild: Früher war die Aubergine bitter, heute ist sie meist milde | |
| „Das klingt spannend“, schrieb mir der taz-Redakteur auf meinen Vorschlag, | |
| über Bitterstoffe und deren Fehlen in der Ernährung zu schreiben, „gerade | |
| diese Verknüpfung von Wissenschaft und Geschmackserlebnis, das können wir | |
| gern als Aufmacher für die Genussseite vereinbaren.“ Ich setzte mich also | |
| an die Tastatur, sprach mit Experten, die sich sehr gut mit Bitterstoffen | |
| auskennen (logisch, sonst wären sie schließlich keine Experten!), und | |
| schickte den Text ab. Aber der Redakteur war nicht so recht zufrieden: Zu | |
| detailliert, zu wissenschaftlich, zu wenig persönlich. | |
| Deshalb kommt hier die Story hinter der Story: Ich leide seit zehn Jahren | |
| unter Verstopfung. Viele Ärzte haben mir dazu schon Pillen verschrieben, | |
| Mediziner für traditionelle chinesische Medizin haben mir Nadeln gesetzt, | |
| Kinesiologen haben auf meine ausgestreckten Arme geklopft. Nur: Nichts | |
| half. Auch Hausmittel wie viel Wasser trinken, Abführtee, Leinsamen ins | |
| Müsli mixen, Trockenobst, keine dunkle Schokolade essen und Ähnliches | |
| hatten bei mir null Wirkung. Ich konnte nur einmal pro Woche aufs Klo und | |
| war kurz davor, eine Darmspiegelung machen zu lassen. | |
| Eines langweiligen Corona-Abends zappte ich mal wieder durch die Programme | |
| und blieb bei HSE24 hängen, Home Shopping Europe, wo Kräutertropfen | |
| angepriesen wurden, die man sich dreimal täglich direkt auf die Zunge | |
| träufeln sollte und die angeblich eine gute Wirkung auf die Verdauung | |
| hätten. Da ich lieber den lokalen Handel unterstütze, kaufte ich mir das | |
| Zeugs am nächsten Tag für 15 Euro bei dm. | |
| „Was bitter im Mund, ist dem Magen gesund“, besagt ein altes Sprichwort. | |
| Und ja, die Tropfen schmecken anfangs eher nach Medizin, aber ich gewöhne | |
| mich schnell daran – und beginne schließlich sogar, den leicht herben | |
| Geschmack zu mögen. Liebhaber von deftigem Essen schwören nicht umsonst | |
| seit jeher auf den „Bitter“ nach dem Essen; der bekannteste dürfte dabei | |
| Fernet Branca sein. Doch was ist da eigentlich drin? Der Magenbitter aus | |
| Italien enthält ziemlich edle Zutaten: Aloe, Rhabarber, Enzian, Galanga, | |
| Kamille, Safran, Myrrhe und Holunderblüten. | |
| ## Der Gaumen ist empfindlich geworden | |
| Fernet Branca geht zurück auf das Jahr 1845. Heute ist es hingegen so, dass | |
| viele Bitterstoffe aus unseren Nahrungsmitteln verschwunden sind. Das hat | |
| auch mit der modernen Landwirtschaft zu tun: Pflanzen bilden Bitterstoffe | |
| als Abwehr gegen Fressfeinde. Doch wenn beim Gemüseanbau Pestizide | |
| verspritzt werden, brauchen die Pflanzen ihre natürliche Abwehr nicht mehr | |
| selbst zu produzieren. | |
| Darüber hinaus wurden viele Gemüsesorten, zum Beispiel Gurken oder Salate, | |
| so gezüchtet, dass sie weniger Bitterstoffe enthalten, weil man meinte, | |
| dass die Kunden diese nicht mögen. So wurde in den letzten Jahrzehnten | |
| unbewusst auch unser Geschmack manipuliert: Der Gaumen von Otto Normalesser | |
| reagiert viel empfindlicher auf kleine Mengen an Bitterstoffen, weil er | |
| diese eben nicht mehr gewohnt ist. | |
| Dabei sind Bitterstoffe äußerst gesund. Gut sollen sie sein für Leber, Darm | |
| und Psyche, sie sollen bei Stressbewältigung und gegen Heißhungerattacken | |
| helfen, das Immunsystem unterstützen und für einen ausgewogenen | |
| Säure-Basen-Haushalt sorgen. „Etwa achtzig Prozent unserer | |
| Immunabwehrzellen werden im Darm gebildet“, sagt der Apotheker Michael | |
| Greiff. „Bitterstoffe regen die Durchblutung und Befeuchtung der | |
| Schleimhäute an und fördern so ein gesundes Milieu für die Mikrobiota.“ | |
| Gemeinsam mit seiner Frau Marie, ebenfalls Apothekerin, ist Greiff einer | |
| der führenden deutschen Hersteller von Bitterstoffen. Die beiden fertigen | |
| in ihrer Apotheke in Rotthalmünster naturheilkundliche Produkte in | |
| Handarbeit. Sie experimentierten lange und brachten 2007 das | |
| „Bitter-Elixier“ auf den Markt. Daraus ist mittlerweile ein florierendes | |
| Unternehmen namens Bitter & Friends geworden. | |
| ## Hildegard von Bingen wusste früh Bescheid | |
| Schon sehr viel früher als die Greiffs erkannte die Heilkraft von | |
| Bitterstoffen Hildegard von Bingen. Nach ihrem Rezept wird eine Latwerge | |
| aus Kräutern behutsam eingedickt, danach an der Sonne getrocknet und in | |
| einer Honigwürze angesetzt. Für deren Wirksamkeit findet sie lyrische | |
| Worte: „Wenn du krank bist, richtet es dich auf wunderbare Weise auf und | |
| macht dich stark, wie wenn die Sonne an einem trüben Tag durchbricht.“ Ein | |
| kleines Fläschchen „Hildegard-Tropfen“, erhältlich in guten Drogerien, | |
| kostet rund 12 Euro und enthält Kräuter wie Galgant, Kampfer, | |
| Habichtskraut, Fenchel und Veilchen. | |
| Den wissenschaftlichen Ritterschlag erteilt Ute Wölfle, Zell- und | |
| Molekularbiologin am Universitätsklinikum Freiburg, den Bitterstoffen: | |
| „Bitterstoffe sind wichtig, um die zugeführte Nahrung optimal zu verwerten | |
| und Wahrnehmungstätigkeiten in den einzelnen Organen zu verstärken“, sagt | |
| sie. Wölfle zufolge steigern Bitterstoffe die Speichel- und | |
| Magensaftproduktion, regen die Tätigkeiten von Galle und Bauchspeicheldrüse | |
| und somit auch die Fettverdauung an, unterstützen die Lebertätigkeit und | |
| machen den Magen-Darm-Trakt mobil: „So wird gleichzeitig der Heißhunger auf | |
| Süßes gestillt.“ | |
| Ja, Bitterstoffe helfen sogar gegen Übergewicht! Dass sie heute in der | |
| Nahrung weniger geworden sind, bestätigt Ernährungsberaterin Marlein | |
| Stasche. „Denken Sie nur an die Aubergine, die man früher mit Salz | |
| bestreute, weil sie so bitter war und man ihr die Bitterstoffe dadurch | |
| entziehen wollte. Das ist bei den heutigen Auberginen nicht mehr nötig.“ | |
| ## Die bittere Rauke wird zum Trendsalat | |
| Statt sich Bittertropfen zu kaufen, rät Stasche, sich in Bioläden und auf | |
| Bauernmärkten nach Obst und Gemüse umzusehen, das seinen ursprünglichen | |
| Geschmack bewahrt hat und zuweilen bitter schmeckt. | |
| Etwas, das im Übrigen ohnehin schon geschieht, man denke nur an die | |
| Renaissance der Rauke. Was früher als Unkraut im Müll landete, wird seit | |
| Jahren als „Rucola“ in Plastik verpackt teuer im Supermarkt verkauft – und | |
| das bittere Kraut kommt beim Verbraucher bestens an. Ist der Grund die | |
| unbewusste Suche nach dem verlorenen bitteren Geschmack? Das wäre gewiss | |
| nicht der schlechteste Lebensmitteltrend der vergangenen Jahre. | |
| Was die Tropfen betrifft: Nach zwei Wochen ist mein Verdauungsproblem | |
| gelöst, und zwar bis heute. Die Tropfen nehme ich weiterhin dreimal | |
| täglich. Und manchmal hole ich den Fernet Branca aus dem Schrank, der | |
| mittlerweile bei mir wohnt. Dass ich den früher verschmäht habe, ist die | |
| eigentliche bittere Erkenntnis. | |
| 25 Jan 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Dirk Engelhardt | |
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