# taz.de -- Lessingtage digital am Hamburger Thalia: Gegen Angst und Autokraten | |
> Das Thalia Theater lädt zum Festival am Computer. Das internationale | |
> Programm weckt Erwartungen, die eigene Produktion zum Auftakt dämpft sie | |
> wieder. | |
Bild: Einladung auf die europäische Couch: Hamburger Lessing (Fritz Schaper, 1… | |
HAMBURG taz | Gebannt vom Terrorregime des sich immer wieder neu mit | |
Mutationen radikalisierenden Coronavirus ist Gemeinschaft derzeit das zu | |
Vermeidende. Abstand wahren bis hin zur Selbstisolation gilt als Tugend der | |
Pandemiemonate. Das Hamburger [1][Thalia-Theater] aber wünscht sich, dass | |
auch mal aus der Lockdown-Blase herausgedacht wird. | |
Es soll nicht ins Abseits der öffentlichen Wahrnehmung geraten, was | |
beispielsweise gerade die Autokraten in Russland, Ungarn, Belarus, Polen | |
und der Türkei so treiben und was das für die dort lebenden Menschen | |
bedeutet. Deswegen lautet das Motto der vom Thalia initiierten, bis zum 1. | |
Februar dauernden [2][Lessingtage 2021]: „Stories from Europe“. | |
Da persönliche Begegnungen derzeit unmöglich sind, „ist das Publikum also | |
eingeladen, auf einer paneuropäischen Couch Platz zu nehmen − zu Hause, | |
aber doch zusammen, in Paris, Turin, Budapest oder Moskau“, wie es in der | |
Ankündigung heißt. „Angetrieben von der Neugier auf die Vielfalt Europas“ | |
werde das Programm der Streaming-Ausgabe einen digitalen Einblick in den | |
Reichtum des Theaterschaffens auf dem Kontinent ermöglichen und dabei mit | |
der politischen Situation in den Ländern konfrontieren. | |
Wir müssen uns also vorstellen, da sitzen in Paris, Turin, Budapest oder | |
Moskau die Theaterfans vor ihrem Laptop und wollen zur Festivaleröffnung | |
erfahren, was in Deutschland gerade für Diskurse laufen und mit welchen | |
ästhetischen Mitteln die kritische Regie-Avantgarde darauf reagiert. Und | |
dann sehen die zugeschalteten Lessingtage-Besucher ein Schauspielerpärchen | |
einen auf Leinwand projizierten Text ablesen, als wäre es ihre | |
Erstbegegnung mit Thomas Köcks „paradies spielen (abendland. ein | |
abgesang)“. Christopher Rüping hat das Stück zusammen mit „paradies fluten | |
(verirrte sinfonie)“ und „paradies hungern“ inszeniert und nun als | |
Live-Stream in die Welt geschickt. | |
## Mäandernde Poesie | |
Die assoziativ mäandernde Poesie des Textes vermittelt sich mit der | |
englischen Übersetzung in den Untertiteln kaum. Inhaltlich lassen die | |
sprachspielerisch prunkenden Worte-, Gedanken-, Materialfluten schon den | |
deutschen Muttersprachler überfordert zurück. | |
Was für eine reizvolle Aufgabe also, diesem mürrisch präzisen | |
Bewusstseinsstrom einen Klangraum zu schaffen, die Argumentation | |
nachvollziehbar zu machen, Figuren zur Beweisführung empathisch zu | |
entwickeln und Köcks Kritik der globalisierten Ökonomie zu nutzen, die | |
Evolution des Kapitalismus als Prinzip der Selbstauslöschung des Menschen | |
zu analysieren. Oder so ähnlich. | |
Aber Rüpings läppisch performative Show drückt sich um all das. Der | |
Regisseur lässt Nebel wallen, beliebig Textfragmente abliefern und | |
kuschelige Pop-Sounds musizieren. Nur wenn die Darsteller mal eine Rolle | |
annehmen, die schlaumeiernde Vorlage aus ihrem humanen Kern heraus | |
erkunden, vermittelt sich eine Haltung zum Inhalt. Insgesamt ist diese | |
Gedankenreise durchs verlorene Paradies ein denkbar schlechtes Beispiel, um | |
deutsche Stadttheaterkultur zu feiern. | |
Daher klingt es recht irritierend, als Rüping tags drauf im [3][„Voices of | |
Europe“-Stream] betont, er ersehne ein Theater für alle. „Paradies“ war | |
wohl eher ein Vergnügen für wenige. | |
Aber vielleicht ist das auch nur eine ebenso wohlbekannte Phrase wie so | |
viele Statements, die europäische Starregisseure für den Film artikulieren. | |
Rüpings Wunsch eins und zwei für die postpandemische Zukunft des Theaters | |
lauten übrigens: mehr Fenster und Grünpflanzen ins Foyer. | |
Was all das mit Lessing zu tun hat, dem das Festival gewidmet ist? „Was uns | |
interessiert, ist das, wofür Lessing steht, die Vernunft, seine | |
aufklärerischen Gedanken, sein Eintreten fürs Gemeinwohl, seine radikale | |
Offenheit im Ermöglichen kontroversen Austauschs, Lessing setzt die | |
Freiheit des Denkens an die Stelle der Angst“, sagt Thalia-Pressesprecherin | |
Maren Dey. | |
So wie Gotthold Ephraim Lessing im 18. Jahrhundert die konstruktive | |
Streitkultur in Hamburgs Literatur- und Theaterszene geprägt habe, soll das | |
Festival heute politisch-gesellschaftliche Fragestellungen unserer Zeit | |
beleuchten. 2018 beispielsweise ging es um Demokratie und ihre Gefährdung, | |
vergangenes Jahr wurde gefragt: Wem gehört die Welt und wie geht | |
postkoloniale Selbstbestimmung? 2021 verzichten die Verantwortlichen | |
allerdings auf solche losen, roten Fäden. Erstmals wurde das | |
Gastspielangebot nicht kuratiert. | |
Seit einigen Jahren ist das Thalia-Theater Teil von [4][Mitos 21], einem | |
Zusammenschluss europäischer Bühnen. Dort tauschen sich Intendanten und | |
Dramaturgen aus, über Nachhaltigkeit wird diskutiert und hier eine | |
Co-Produktion, dort ein Gastspiel organisiert. | |
Nun tritt Mitos 21 erstmals öffentlich auch als Festival-Mitveranstalter in | |
Erscheinung: Alle [5][18 Mitglieder] waren zu den Lessingtagen eingeladen, | |
eine Produktion ihrer Wahl vorzustellen. Elf Theater konnten rechtzeitig | |
ein Streaming-Angebot bereitstellen, noch bis zum 31. Januar ist jeden | |
Abend eines kostenlos abrufbar. Am Samstag Waren [6][antike Geschichten als | |
zeitgenössische Überschreibungen] zu erleben: In Kate Tempests | |
„Teiresias“-Version eröffnet der gleichnamige Seher die Gender- und | |
Identitätsdebatte. Und in Stefan Hertmans’ Neufassung ist „Antigone“ eine | |
Jurastudentin, ihr Bruder ein radikalisierter Islamist und Ort der Handlung | |
ist der Brüsseler Stadtteil Molenbeek, bekannt als Terroristen-Hotspot der | |
Pariser Anschläge des Jahres 2015. Regie bei den Uraufführungen im | |
Antwerpener Toneelhuis führt dessen Leiter Guy Cassiers. | |
Außerdem noch bei den Lessingtagen dabei: Berliner Ensemble, Teatro Stabile | |
Torino, das Moskauer Theater der Nationen, Teatre Lliure aus Barcelona, | |
Schauspielhaus Düsseldorf, Odéon Paris und Katona József Színház, Budapest. | |
26 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.thalia-theater.de/ | |
[2] https://www.thalia-theater.de/programm/festivals/lessingtage/lessingtage-20… | |
[3] https://www.thalia-theater.de/stueck/voices-of-europe-2021 | |
[4] https://mitos21.com/#1 | |
[5] https://mitos21.com/members | |
[6] https://www.thalia-theater.de/stueck/antigone-in-molenbeek-_-tiresias-2021 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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